Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
deine Frau?« fragte er weiter. Ich nickte benommen. Sein Grinsen wurde noch breiter.
»Aber mein lieber Tauber, wo bleiben denn deine Manieren? Hilf der Dame gefälligst in den Wagen«.
Ich stand noch immer wie gelähmt da, unfähig, mich zu rühren. Er trat dichter an mich heran und flüsterte: »Du hast zehn Sekunden, sie da hinaufzuheben. Sonst gehst du selbst rein!«
Zögernd streckte ich meinen Arm aus. Esther stützte sich darauf und kletterte in den Wagen. Die anderen beiden Kapos warteten schon darauf, die Türen zuwerfen zu können. Als Esther oben war, blickte sie zu mir hinunter, und zwei Tränen – aus jedem Auge eine – rollten ihr über die Wangen. Sie sagte nichts zu mir, und wir hatten auch vorher kein einziges Wort miteinander gesprochen. Dann wurden die Türen zugeworfen, und der Wagen fuhr fort. Das letzte, was ich von ihr sah, waren ihre Augen. Sie blickten mich unverwandt an.
Ich habe mich zwanzig Jahre lang gefragt, was sie mit diesem Blick ausdrücken wollte. War es Liebe oder Haß, Verachtung oder Mitleid, Verwirrung oder Verständnis? Ich werde es niemals erfahren.
Als der Wagen abgefahren war, drehte sich Roschmann zu mir um. Er grinste noch immer. »Du kannst weiterleben, bis es uns paßt, dich zu liquidieren, Tauber«, sagte er. »Von jetzt an bist du sowieso schon tot.«
Und damit hatte er recht. An jenem Tag starb meine Seele bei lebendigem Leib. Es war der 29. August 1942.
Seit jenem Tag war ich nur noch ein Roboter. Für mich zählte nichts mehr. Ich empfand weder Kälte noch Schmerz – ich empfand überhaupt nichts mehr. Ich beobachtete die Grausamkeiten von Roschmann und seinen SS-Kumpanen, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich war gefühllos für alles, was den menschlichen Geist anrühren, und gefühllos für das meiste, was den Leib berühren kann. Aber ich nahm alles zur Kenntnis, jede winzige Einzelheit; ich versenkte sie in meinem Gedächtnis oder ritzte mir die Daten in die Haut an meinen Beinen. Die Menschentransporte kamen, marschierten zum Exekutionshügel oder zu den fahrbaren Gaskammern; sie starben und wurden verscharrt. Manchmal sah ich ihnen in die Augen, ihnen, die ich, ausgerüstet mit Armbinde und Knüppel, zum Ghettotor eskortierte. Dann fühlte ich mich an die Verse eines englischen Dichters erinnert, die ich einmal gelesen hatte. Sie handelten von einem alten Seefahrer, der dazu verurteilt war, mit der Erinnerung an den Fluch weiterzuleben, den er in den Augen seiner todgeweihten schiffbrüchigen Mannschaft gelesen hatte. Aber für mich gab es keinen Fluch, denn ich war immun gegen Schuldgefühle. Die sollten sich erst Jahre später einstellen. In mir gab es nur die Leere eines toten Mannes, der noch aufrecht gehen konnte …
Peter Miller las bis spät in die Nacht weiter. Mehrmals lehnte er sich in seinem Sessel zurück und atmete ein paar Minuten lang tief durch, um seinen rasenden Puls zu beruhigen. Dann las er weiter.
Einmal, es war kurz vor Mitternacht, legte er das Tagebuch aus der Hand und stand auf, um sich einen Kaffee zu machen. Er blieb am Fenster stehen und zog die Vorhänge zurück. Ein Stück weiter die Straße hinunter war das Café Cherie. Das helle Neonlicht erleuchtete den Steindamm, und er sah eins der Teilzeitmädchen, die da stehen, um ihr Einkommen aufzubessern. Sie trat am Arm eines Geschäftsmanns auf die Straße. Die beiden verschwanden in der Fremdenpension gegenüber, wo der Geschäftsmann um hundert Mark ärmer wurde, für eine kurze, hastige Erleichterung.
Miller zog die Vorhänge wieder zu und kehrte in seinen Sessel zurück. Er trank seinen Kaffee aus und las weiter in Salomon Taubers Tagebuch.
Im Herbst 1943 kam die Anweisung aus Berlin, die Zehntausende von Leichen im Hochwald wieder auszugraben und sie, entweder durch Verbrennen oder durch Bestreuen mit ungelöschtem Kalk, gründlicher zu vernichten. Das war leichter gesagt als getan; der Winter stand vor der Tür, und der Boden fror bald hart. Roschmann war tagelang in bösester Stimmung; aber die verwaltungstechnischen Einzelheiten machten ihm genügend zu schaffen, um ihn uns vom Leibe zu halten.
Tag für Tag konnte man die neuaufgestellten Arbeitskommandos mit geschulterten Äxten und Spaten den Hügel zum Hochwald hinaufmarschieren sehen, und Tag für Tag stiegen schwarze Rauchsäulen über dem Wald auf. Als Brennstoff benutzten sie Kiefernharz, aber normalerweise brennen bereits verwesende Leichen nicht ohne weiteres, und so ging die Arbeit nur langsam
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