Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
ich einen Ruf hörte. Ich wandte den Kopf, um zu sehen, was es gab.
Ein Hauptmann der Wehrmacht kam den Kai hinuntergerannt und blieb in meiner unmittelbaren Nähe am Fuß der Gangway stehen. Er starrte zu den Männern auf dem Schiff hinauf. Die waren gerade dabei, die ersten Verwundeten wieder vom Schiff hinunter auf den Kai zurückzutragen. »Wer hat befohlen, diese Männer auszuladen?« rief der Hauptmann. Roschmann trat von hinten auf ihn zu und sagte: »Ich. Das ist unser Schiff.«
Der Hauptmann fuhr herum. Er zog ein Papier aus der Tasche. »Dieses Schiff ist hier, um Verwundete der Wehrmacht an Bord zu nehmen«, sagte er, »und genau das wird geschehen.«
Damit wandte er sich um und befahl den Sanitätssoldaten, mit dem Einladen der Verwundeten fortzufahren. Ich sah zu Roschmann hinüber. Er war wie angewurzelt stehengeblieben, und ich glaube, er zitterte vor Wut. Dann begriff ich, daß er Angst hatte. Er hatte Angst, zurückzubleiben und den Russen in die Hände zu fallen. Im Gegensatz zu uns waren die Russen nämlich bewaffnet.
Er brüllte die Sanitäter an: »Sofort ausladen, sage ich! Ich habe dieses Schiff im Namen des Reichs beschlagnahmt.«
Die Krankenträger kümmerten sich nicht um sein Geschrei; sie gehorchten dem Hauptmann, der keine zwei Meter von mir entfernt stand. Sein Gesicht war grau vor Erschöpfung, und dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Von den Nasenflügeln liefen zwei scharfe Falten zu den Mundwinkeln hinunter, und auf Kinn und Wangen sproß ein mehrere Tage alter Stoppelbart. Als er sah, daß die Verladung der Verwundeten weiterging, wollte er an Roschmann vorbeigehen, um seine Sanitätssoldaten zu beaufsichtigen. Am Kai lagen die Verwundeten auf Bahren in der Kälte; der Boden war schneebedeckt, und die Verwundeten warteten darauf, an Bord getragen zu werden. Einer der Verwundeten bemerkte in unverkennbar hamburgischem Tonfall: »Prima, der Hauptmann! Wird auch Zeit, daß einer den Schweinen endlich mal sagt, wo’s lang geht!«
Als der Hauptmann an Roschmann vorüberging, packte Roschmann ihn beim Arm, riß ihn zu sich herum und schlug ihn mit seiner behandschuhten Rechten ins Gesicht. Ich hatte tausendmal gesehen, wie er Männern ins Gesicht schlug, aber nie eine solche Reaktion erlebt. Der Hauptmann schüttelte kurz den Kopf. Dann ballte er die Fäuste und landete einen wuchtigen rechten Schwinger auf Roschmanns Kiefer. Roschmann wurde mehrere Meter zurückgeschleudert und fiel mit dem Rücken in den Schnee. Ein dünner Blutfaden lief ihm aus dem Mundwinkel. Der Hauptmann drehte sich um und ging weiter.
Während ich ihm nachblickte, zog Roschmann seine Luger aus der Pistolentasche, zielte sorgfältig und schoß dem Hauptmann zwischen die Schulterblätter. Das Krachen des abgefeuerten Schusses ließ alles erstarren. Der Hauptmann strauchelte und fing sich wieder. Roschmann feuerte noch mal, und das Geschoß drang dem Hauptmann ins Genick und trat vorn durch die Kehle aus. Er fiel hin. Er war schon tot, bevor er auf dem Boden aufschlug. Irgend etwas, was er um den Hals getragen hatte, war von der Kugel weggerissen worden. Mir wurde befohlen, den Leichnam fortzuschleifen und in das Hafenbecken zu werfen. Der Gegenstand, den der Hauptmann um den Hals getragen hatte, war ein Orden, der an einem Band hing. Den Namen des Hauptmanns habe ich nie erfahren, aber der Orden war das Ritterkreuz mit Eichenlaub.
Miller las diese Seite des Tagebuchs mit wachsendem Staunen, das sich allmählich in Unglauben, Zweifel und dann in abgründige Wut verwandelte. Er las die Bemerkungen über den Rang und die Auszeichnungen des Offiziers sowie über Ort und Datum seines Todes ein paarmal, um ganz sicher zu sein. Dann las er weiter.
Danach wurde uns befohlen, die verwundeten Soldaten wieder auszuladen und die Bahren auf dem verschneiten Kai abzustellen. Ich führte einen jungen Soldaten die Gangway hinunter. Er hatte das Augenlicht verloren und trug eine schmutzige Bandage aus einem abgerissenen Hemdsärmel um den Kopf. Er delirierte im Fieberwahn und fragte immerzu nach seiner Mutter. Wahrscheinlich war er höchstens achtzehn Jahre alt.
Schließlich waren wieder alle Verwundeten an Land geschafft, und wir Häftlinge wurden an Bord getrieben. Man sperrte uns in die beiden Frachträume vorn und achtern unter Deck. Wir waren so eng zusammengepfercht, daß wir uns kaum rühren konnten. Dann wurden die Luken dichtgemacht und die SS kam an Bord. Kurz vor Mitternacht lief das Schiff aus. Der
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