Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
Denn dazu mußte man wissen: Von den deutschen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zwischen 1933 und 1945 gehen etwa 95 Prozent auf das Konto der SS; davon werden wiederum etwa 80 bis 90 Prozent zwei SS-Dienststellen zugeschrieben, dem Reichssicherheits-Hauptamt und dem Reichswirtschaftsverwaltungs-Hauptamt. Wem die Vorstellung eines Wirtschaftsamtes, das mit Massenmord zu tun haben soll, abwegig erscheint, der muß sich die Konzeption vergegenwärtigen, die der »Endlösung der Judenfrage« zugrunde lag. Man wollte nicht nur alle Juden in Europa umbringen (und die slawischen Völker zu Sklaven der »Herrenrasse« degradieren), man wollte sie für dieses Privileg auch noch zahlen lassen. Bevor sich die Gaskammern öffneten, hatte die SS bereits den größten planmäßig organisierten Raub aller Zeiten durchgeführt.
Bei den Juden erfolgte die Zahlung in drei Phasen. Zunächst wurden ihre Geschäfte, Häuser und Bankkonten enteignet und ihre Möbel, Autos und Kleidungsstücke beschlagnahmt. Sie selbst wurden in die Zwangsarbeits- und Vernichtungslager nach Polen abtransportiert, dabei ließ man sie in dem Glauben, sie würden in den Osten umgesiedelt. Es war ihnen gestattet, bei dieser »Umsiedlungsaktion« so viel an Hausrat und Habseligkeiten mitzuführen, wie sie tragen konnten – gewöhnlich waren das zwei Koffer. Auf dem Lagerplatz wurden sie ihnen dann abgenommen, und schließlich – vor ihrer Exekution – auch noch die Kleidung, die sie am Leibe trugen.
Der Inhalt des Handgepäcks von sechs Millionen Menschen war eine Beute im Gesamtwert von mehreren Milliarden Dollar. Damals nahmen die europäischen und besonders die osteuropäischen Juden ihre sämtlichen Wertsachen auf Reisen mit. Aus den Lagern rollten ganze Güterzüge mit Schmucksachen, Brillanten, Gold- und Silbermünzen sowie alle Sorten von Banknoten in die SS-Hauptquartiere ins Reich zurück. Die SS sicherte sich bei diesen Operationen einen beträchtlichen Profit. Das Gold wurde in Barren gegossen und mit dem sogenannten Hoheitsadler des Reichs und der zweifachen Siegrune, dem Zeichen der SS, gestempelt. Gegen Kriegsende deponierte man es auf Banken in der Schweiz, in Liechtenstein und Tanger. Diese Goldbarren bildeten den Grundstock des Betriebskapitals, mit dem dann später die ODESSA arbeitete. Erhebliche Mengen dieses Goldes lagen in Obhut selbstzufriedener, rechtschaffener, meist ahnungsloser schweizerischer Bankiers in unterirdischen Depots unter den Straßen Zürichs.
Die zweite Phase der Verwertung bestand in der Ausbeutung der Arbeitskraft der Opfer. Ihre Körper waren ein Energiepotential, das gewinnbringend genutzt werden konnte. In dieser Phase waren die Juden den kriegsgefangenen oder verschleppten Russen und Polen gleichgestellt, die nie über Vermögenswerte verfügt hatten, welche man ihnen jetzt hätte abnehmen können. Wer arbeitsunfähig war, wurde als unbrauchbar ausgemerzt. Die Arbeitsfähigen wurden entweder an SS-eigene Fabriken vermietet oder an deutsche Rüstungsbetriebe, wie Krupp, Thyssen, Opel und andere, zu einem Tagessatz von drei Reichsmark für ungelernte Arbeiter und vier Reichsmark für Facharbeiter. Der »Tagessatz« war der Gegenwert einer maximalen Arbeitsleistung, die einem mit einem Minimum an Ernährung funktionsfähig erhaltenen Körper innerhalb von vierundzwanzig Stunden abgepreßt werden konnte. Hunderttausende starben durch diese Methode an ihren Arbeitsplätzen.
Die SS bildete einen Staat im Staate. Sie verfügte über ihre eigenen Fabriken und Handwerksbetriebe, ein eigenes Ingenieurwesen, eigene Konstruktionsbüros, Reparaturbetriebe und Reparaturwerkstätten sowie Schneidereien. Sie produzierte in eigener Regie alles mögliche, was sie selbst jemals benötigen könnte; dafür hatte sie die Zwangsarbeiter – sie waren durch Hitlers Erlaß Eigentum der SS.
Die dritte Phase der Ausbeutung bestand in der Verwertung der Leichen. Die Opfer gingen nackt in den Tod; sie hinterließen Wagenladungen von Schuhen, Socken, Rasierpinseln, Brillen, Jacken und Hosen. Sie hinterließen auch ihr Haupthaar; es wurde ins Reich geschafft und dort zu Filzstiefeln für die Wehrmacht verarbeitet. Goldzähne und -plomben brach man mit Zangen aus den Gebissen der Toten, schmolz das Gold später ein und deponierte es ebenfalls in Form von Goldbarren bei der Reichsbank. Versuche, die Knochen zu Düngemittel und das Körperfett zu Seife zu verarbeiten, erwiesen sich als unwirtschaftlich.
Zuständig für alle
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