Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
gutes Recht, mich für die Vergangenheit entschädigen zu lassen. Ich beharrte auf meiner Weigerung. Sie schickte dann jemand anders, und ich weigerte mich wieder. Er sagte, es sei regelwidrig, die Entschädigung zu verweigern. Ich begriff, was er damit sagen wollte: es brachte ihre Buchführung durcheinander. Aber ich nehme von ihnen, was sie mir schuldig sind. Kein Geld.
Als ich in dem britischen Lazarett lag, fragte mich einer der dortigen Ärzte, warum ich nicht nach Israel emigrieren wolle; damals war das Land gerade dabei, unabhängig zu werden. Wie hätte ich es ihm erklären sollen? Ich konnte ihm nicht sagen, daß ich das Gelobte Land niemals betreten würde – nicht nach dem, was ich Esther, meiner eigenen Frau, angetan hatte. Ich denke oft daran, ich träume oft davon, wie es wohl sein mag, in Israel zu leben. Aber ich bin dieses Land nicht wert.
Wenn jedoch irgendwann einmal diese Zeilen im Lande Israel, das ich niemals sehen werde, gelesen werden sollten – würde dann bitte jemand ein khaddish für mich sprechen?
SALOMON TAUBER,
Hamburg-Altona,
den 21. November 1963
Peter Miller legte das Tagebuch aus der Hand und streckte sich in seinem Sessel aus. Er zündete sich noch eine Zigarette an und starrte an die Zimmerdecke. Kurz vor fünf Uhr morgens hörte er, wie die Wohnungstür geöffnet wurde. Sigi trat ins Zimmer. Sie war überrascht, daß er noch wach und angezogen war.
»Warum bist du so spät noch auf?« fragte sie.
»Ich hab gelesen«, sagte Miller.
Später, als die kupferbeschlagene Kuppel der Michaelis-Kirche blaßgrün in der Dämmerung leuchtete, lagen sie zusammen im Bett, Sigi war zufrieden und noch ein wenig benommen wie eine junge Frau, die soeben geliebt worden war. Miller starrte schweigend an die Zimmerdecke.
»Ein Königreich für deine Gedanken«, sagte Sigi nach einer Weile.
»Ich denk bloß nach.«
»Ich weiß. Ich spür’s doch. Und worüber?«
»Die nächste Story, die ich schreiben will.«
Sigi drehte sich zu ihm um und sah ihn an.
»Was hast du vor?« fragte sie. Miller beugte sich aus dem Bett und drückte seine Zigarette aus. »Ich werde einen Mann aufspüren, der 1945 untergetaucht ist«, sagte er.
Kapitel 3
Während Peter Miller und Sigi in Hamburg wieder zusammen einschliefen, schwebte eine riesige Coronado der Argentine Airlines über den dunklen Bergen Kastiliens und setzte zur Landung auf dem Madrider Flughafen Barajas an.
Auf einem Fensterplatz in der dritten Reihe der Ersten Klasse saß ein Mann von Anfang Sechzig mit eisengrauem Haar und kurzgestutztem Schnauzbart.
Es existierte nur ein einziges Photo von diesem Mann, das ihn zeigte, wie er früher ausgesehen hatte – Anfang Vierzig, mit militärisch kurzem, linksgescheiteltem Haar und ohne den Schnauzbart, der jetzt das Rattenartige seiner Mundpartie kaschierte. Kaum jemand aus dem kleinen Kreis der Männer, die dieses Photo jemals gesehen hatten, hätte den Mann im Flugzeug, der das dichte Haar nun ohne Scheitel zurückgekämmt trug, wiedererkannt. Das Photo in seinem Paß stimmte mit seinem veränderten Aussehen überein.
Der Name in seinem Paß lautete Señor Ricardo Suertes, argentinischer Staatsbürger. Seinen neuen Namen empfand er als besonders gelungenen Scherz, denn Glück heißt auf spanisch suerte , und der richtige Name dieses Erster-Klasse-Fluggastes war Richard Glücks, vormals SS-Gruppenführer, Chef des Reichswirtschaftshauptamtes und Generalinspekteur der Konzentrationslager. Auf den Fahndungslisten der Bundesrepublik Deutschland und des Staates Israel stand er an dritter Stelle nach Martin Bormann und dem ehemaligen Gestapochef Heinrich Müller – er war noch gesuchter als Dr. Josef Mengele, der satanische Lagerarzt von Auschwitz. Richard Glücks war der unmittelbare Stellvertreter Martin Bormanns, der 1945 die Nachfolge des »Führers« angetreten hatte, und damit der zweite Mann an der Spitze der ODESSA.
Glück’s Rolle bei den Massenverbrechen der SS war einzigartig; die Art und Weise seines spurlosen Verschwindens im Mai 1945 war entsprechend. Glücks war mehr noch als Adolf Eichmann einer der maßgeblichen Drahtzieher der Massenvernichtung gewesen; selbst hatte auch er nie eine Mordwaffe in die Hand genommen. Wenn man einen nichtsahnenden Fluggast auf die Identität seines Nachbarn hingewiesen hätte, er wäre zweifellos erstaunt gewesen über die Tatsache, daß der ehemalige Leiter eines Wirtschaftsverwaltungsamts ganz obenauf auf der Fahndungsliste rangierte.
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