Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
wissen Sie das?«
»Von Tauber. Er hat ihn gesehen.«
»Ja, ich habe es gelesen. Das war Anfang April 1945.«
Marx schüttelte den Kopf.
»Nein, es war vor einem Monat.«
Minutenlang herrschte Schweigen, während Miller den alten Mann anstarrte. Marx blickte scheinbar unbewegt weiter auf den Fluß.
»Vor einem Monat?« wiederholte Miller schließlich ungläubig. »Hat er gesagt, wo er ihn gesehen hat?«
Marx seufzte und wandte sich Miller zu.
»Ja. Es war spät abends, und er ging spazieren. Er machte das oft, wenn er nicht schlafen konnte. Auf dem Heimweg kam er an der Staatsoper vorbei, als die Vorstellung gerade zu Ende war und eine Menge Leute auf die Straße hinausströmten. Er sagte, es waren lauter reiche Leute, die Männer im Smoking und Abendmantel und die Frauen in Pelzen und mit Schmuck behängt. Einige Taxis waren vorgefahren, und mehrere Passanten schauten zu, wie die Herrschaften einstiegen. In diesem Augenblick sah er Roschmann.«
»Unter den Opernbesuchern?«
»Ja. Er stieg mit zwei anderen Leuten in eine der wartenden Taxen und fuhr weg.«
»Hören Sie, Herr Marx, das ist sehr wichtig. War er auch ganz sicher, daß er sich nicht getäuscht hatte?«
»Ja, er sagte, er sei ganz sicher. Es war Roschmann.«
»Aber er hatte ihn vor neunzehn Jahren zuletzt gesehen. Roschmann muß sich doch verändert haben. Wie konnte er sich seiner Sache so sicher sein?«
»Er sagte, er habe gelächelt.«
»Er habe was getan?«
»Gelächelt. Roschmann habe gelächelt.«
»Ist denn das so bezeichnend?«
Marx nickte mehrmals.
»Er sagt, wer Roschmann einmal so lächeln gesehen hat, vergißt dieses Lächeln nie mehr. Beschreiben konnte er es nicht, aber er hat gesagt, daß er dieses Lächeln unter Millionen überall auf der ganzen Welt wiedererkennen würde.«
»Ich verstehe. Halten Sie das für möglich?«
»O ja. Ja, ich bin überzeugt, daß er Roschmann gesehen hat.«
»Gut. Gehen wir einmal davon aus, daß auch ich davon überzeugt bin. Hat er sich das polizeiliche Kennzeichen des Taxis gemerkt?«
»Nein. Er sagte, er sei so durcheinander gewesen, daß er nur zugeschaut hat, wie es davonfuhr.«
»Verdammt«, sagte Miller. »Es wird wahrscheinlich zu einem Hotel gefahren sein. Wenn ich die Nummer hätte, könnte ich den Taxifahrer fragen, wohin er seine Fahrgäste gebracht hat. Wann hat Herr Tauber Ihnen das erzählt?«
»Das war vor einem Monat, als wir unsere Rente abholten. Hier auf dieser Bank.«
Miller seufzte und stand auf.
»Sind Sie sich darüber im klaren, daß niemand diese Geschichte glauben würde?«
Marx löste den Blick vom Flug und richtete ihn auf den jungen Reporter.
»O ja«, sagte er leise. »Das wußte er. Deswegen hat er sich ja umgebracht.«
An jenem Abend stattete Miller seiner Mutter den allwöchentlichen Besuch ab, und wie jede Woche klagte sie, daß er nicht genügend esse, zuviel rauche, seine Hemden zu lange trage und überhaupt seine Garderobe verwahrlosen lasse.
Sie war eine kleine, dickliche, matronenhafte Frau von Anfang Fünfzig. Sie hatte sich nie damit abgefunden, daß ihrem einzigen Sohn nichts Besseres eingefallen war, als Illustriertenreporter zu werden.
Im Verlauf des Abends erkundigte sie sich danach, welcher Räuberpistole er denn im Augenblick gerade nachjage.
Miller berichtete ihr kurz von den Ereignissen der letzten Tage und erwähnte seine Absicht, den untergetauchten Eduard Roschmann aufzuspüren. Seine Mutter war entsetzt.
Peter aß mit unvermindertem Appetit weiter und ließ die Flut ihrer Vorwürfe und Ermahnungen ungerührt über sich ergehen.
»Es ist schon schlimm genug, daß du ständig über diese abscheulichen Dinge berichten mußt, die all diese kriminellen Leute immerfort anstellen«, sagte sie. »Aber was dein armer Vater gesagt hätte, wenn er wüßte, daß du dich jetzt auch noch auf diese alten Nazigeschichten einlassen willst – das weiß ich nicht. Ich weiß es wirklich nicht …«
Miller kam ein Gedanke.
»Mutter.«
»Ja, mein Junge?«
»Krieg … Die Dinge, die den Menschen von der SS angetan wurden – in den Lagern, meine ich … Hast du jemals geahnt … Ich meine, hast du vermutet, daß diese Dinge geschahen?«
Sie begann mit geschäftigem Eifer den Tisch abzuräumen. Nach ein paar Sekunden sagte sie:
»Schreckliche Dinge. Ganz schreckliche Dinge. Die Engländer zwangen uns nach dem Krieg, die Filme anzusehen. Ich will davon nichts mehr hören.« Sie verließ das Zimmer. Peter stand auf und folgte ihr in die
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