Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
Küche. »Weißt du noch, wie ich 1952 mit der Schulklasse nach Paris fuhr? Da war ich achtzehn.«
Sie stand am Spülbecken und ließ das Wasser zum Geschirrwaschen einlaufen.
»Ja, ich erinnere mich.«
»Wir wurden damals zu einer Kirche geführt, die Sacre Cœur heißt. Als wir ankamen, war gerade ein Gottesdienst zu Ende gegangen, ein Gedenkgottesdienst für einen Mann namens Jean Moulin. Eine Gruppe von Leuten kam aus der Kirche heraus, und als sie hörten, daß ich mich mit einem Schulkameraden auf deutsch unterhielt, trat ein Franzose auf mich zu und spuckte mich an. Ich weiß noch, daß ich dir die Geschichte bei meiner Rückkehr erzählt habe. Weißt du noch, was du damals gesagt hast?«
Frau Miller spülte mit wütender Entschlossenheit das Abendbrotgeschirr ab.
»Du hast gesagt, das sei typisch für die Franzosen. Üble Eigenschaften haben die, hast du gesagt.«
»Stimmt. Die haben sie auch. Ich habe sie nie gemocht.«
»Hör mal, Mutter. Weißt du, was wir mit Jean Moulin gemacht haben? Du nicht, Vater nicht, ich nicht. Aber wir, die Deutschen – oder vielmehr die Gestapo, die Millionen Ausländer mit uns in einen Topf werfen?«
»Ich will nichts mehr davon hören. Das genügt jetzt aber wirklich.«
»Also, ich kann es dir nicht sagen, was die alles mit dem gemacht haben, bevor er starb, weil ich es nicht weiß. Das ist sicher irgendwo aufgeschrieben worden. Aber das Entscheidende ist, daß ich nicht angespuckt worden bin, weil man mich Schuljungen zur Gestapo rechnete, sondern weil ich ein Deutscher war.«
»Und darauf solltest du stolz sein.«
»Vielleicht bin ich das auch. Aber in diesem Fall muß ich dann auch auf die Nazis, auf die SS und die Gestapo stolz sein.«
»Das ist wohl niemand. Aber dadurch, daß man dauernd davon redet, wird auch nichts besser.«
Sie war erregt und verwirrt wie immer, wenn er mit ihr diskutierte. Sie trocknete sich die. Hände mit dem Geschirrtuch ab, bevor sie wieder ins Wohnzimmer ging. Er folgte ihr.
»Hör doch mal zu, Mutter. Versuch das bitte zu begreifen. Bevor ich das Tagebuch gelesen hatte, habe ich auch nicht danach gefragt, was genau es nun eigentlich gewesen ist, was wir angeblich alle getan haben. Jetzt endlich fange ich doch wenigstens an zu begreifen. Deswegen will ich diesen Mann ausfindig machen, wenn es ihn noch gibt und er immer noch frei herumläuft. Dieses Ungeheuer muß vor Gericht gebracht werden.«
Den Tränen nahe setzte sie sich auf das kleine Sofa und sah ihn flehentlich an.
»Bitte, Peterchen, laß die Finger davon. Wühle nicht in der Vergangenheit herum. Es kommt doch nichts Gutes dabei heraus. Das alles ist jetzt lange vorbei, und man sollte es endlich ruhen lassen.«
Peter Millers Blick fiel auf den Kaminsims, auf dem die Uhr unter dem Glassturz und die Photographie seines toten Vaters standen. Der Vater trug die Uniform eines Hauptmanns der Wehrmacht und sah ihn aus dem Rahmen heraus mit jenem gütigen und ein wenig traurigen Lächeln an, das Miller so vertraut war. Das Photo war während des letzten Heimaturlaubs kurz vor der Rückkehr an die Front aufgenommen worden.
Die Erinnerung an seinen Vater war in Peter auch nach neunzehn Jahren erstaunlich lebendig geblieben. Er hatte nicht vergessen, daß sein Vater vor dem Krieg mit ihm zu Hagenbecks Tierpark hinausgefahren war, ihm alle Tiere gezeigt und laut vorgelesen hatte, was auf den kleinen Schildern an jedem Käfig stand, um die unermüdliche Wißbegier seines damals fünfjährigen Sohnes zu stillen.
Er konnte sich noch erinnern, wie sein Vater 1940 heimkam, nachdem er sich zum Kriegsdienst gemeldet hatte. Seine Mutter weinte, und er hatte sich als Junge darüber gewundert, wieso erwachsene Frauen so töricht sein konnten, Tränen zu vergießen wegen etwas so Fabelhaftem wie der Tatsache, daß der Vater Uniform trug. Und er entsann sich jenes Tages – das war 1944 und er war damals elf Jahre alt gewesen –, als ein Offizier der Wehrmacht seine Mutter aufsuchte, um ihr mitzuteilen, daß ihr heldenhafter Mann an der Ostfront gefallen sei.
»Abgesehen davon will niemand mehr von diesen schrecklichen Enthüllungen etwas wissen, und von den ewigen Prozessen auch nicht, bei denen alles wieder ausgegraben wird. Niemand wird dir dafür danken, selbst wenn du ihn finden solltest. Sie werden auf der Straße mit dem Finger auf dich zeigen. Ich meine, die Menschen haben die ewigen Prozesse einfach satt. Niemand will sie mehr, dazu ist es jetzt einfach zu spät. Laß die Finger
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