Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
Wechselgeld ein, ließ den Jaguar aufheulen und fuhr zum Altonaer Hauptpostamt. Er trat an den Schalter mit dem Schild »Rentenauszahlung«.
»Können Sie mir bitte sagen, wann die Rentner ihr Geld abholen?« fragte er die Dame hinter dem Schalter.
»Am Monatsletzten natürlich«, sagte sie.
»Das wäre also Sonnabend?«
»Wenn der Monatsletzte auf das Wochenende fällt, erfolgt die Auszahlung einen Tag früher. In diesem Monat also am Freitag – übermorgen.«
»Betrifft das auch die Invalidenrenten?« fragte er.
»Alle Rentenempfänger holen ihr Geld am Monatsende ab.«
»Hier an diesem Schalter?«
»Ja, wenn sie in diesem Viertel wohnen«, entgegnete die Postangestellte.
»Um welche Zeit?«
»Ab neun Uhr früh, wenn wir aufmachen.«
»Vielen Dank«, sagte Miller.
Zwei Tage später, am Freitag, war Miller gegen neun Uhr vor der Post. Er sah den alten Männern und Frauen zu, die auf der Straße Schlange standen und sich durch die engen Türen des Postamts drängten, als es geöffnet wurde. Miller stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite und beobachtete die alten Leute, die wieder aus dem Postamt herauskamen. Viele waren weißhaarig, aber weil es kalt war, trugen die meisten Hüte. Das Wetter war nicht mehr regnerisch; es war sonnig und kalt. Kurz vor 11 Uhr verließ ein alter Mann mit dichter weißer Haarmähne das Postamt; er zählte sein Geld nach und steckte es in die linke Brusttasche. Er sah sich um, als halte er Ausschau nach jemandem. Nach ein paar Minuten wandte er sich zögernd zum Gehen. An der Ecke blickte er noch einmal die Straße hinauf und hinunter und bog dann in die Museumstraße zur Elbe ein. Miller verließ seinen Beobachtungsposten und folgte ihm.
Der alte Mann brauchte zwanzig Minuten für die achthundert Meter bis zur Elbchaussee, dann ging er zu den Uferanlagen, überquerte einen Rasenstreifen und setzte sich auf eine Parkbank. Miller trat zögernd näher.
»Herr Marx?«
Der alte Mann wandte Miller, der um die Bank herum auf ihn zuging, den Kopf zu. Er wirkte keineswegs überrascht. Miller hatte den Eindruck, er sei es gewohnt, von fremden Passanten erkannt und angesprochen zu werden.
»Ja«, sagte er. »Ich bin Marx.«
»Mein Name ist Miller.«
Marx nickte ernst; er verzog keine Miene.
»Warten Sie – warten Sie vielleicht auf Herrn Tauber?«
»Ja, das tue ich«, sagte der alte Mann.
»Darf ich mich setzen?«
»Bitte.«
Miller setzte sich neben ihn, und beide blickten sie auf den Fluß, auf dem jetzt ein riesiger Frachter, die Kota Maru aus Yokohama, in Richtung Elbemündung an ihnen vorüberglitt.
»Herr Tauber lebt nicht mehr.«
Der alte Mann starrte auf das vorbeifahrende Schiff. Er ließ sich weder Betroffenheit noch Trauer anmerken, als sei er derlei Mitteilungen gewöhnt. »Ich verstehe«, sagte er nur.
Miller berichtete ihm kurz, was am Freitagabend letzter Woche geschehen war.
»Es scheint Sie nicht zu überraschen, daß er sich umgebracht hat.«
»Nein«, sagte Marx. »Er war ein sehr unglücklicher Mann.«
»Er hat ein Tagebuch hinterlassen. Wußten Sie von seinen Aufzeichnungen?«
»Ja, er hat mir einmal davon erzählt.«
»Haben Sie sie jemals gelesen?« fragte Miller.
»Nein. Er hat das Tagebuch niemandem gezeigt. Aber erzählt hat er mir davon.«
»Es handelt von der Zeit, die er während des Krieges in Riga verbracht hat.«
»Ja, er hat mir gesagt, daß er in Riga war.«
»Waren Sie auch in Riga?«
Der Mann wandte sich ihm zu und blickte ihn aus traurigen alten Augen an.
»Nein. Ich war in Dachau.«
»Hören Sie, Herr Marx. Ich brauche Ihre Hilfe. In seinem Tagebuch erwähnt Ihr Freund einen Mann, einen SS-Führer namens Roschmann. Hauptsturmführer Eduard Roschmann. Hat er den Namen Ihnen gegenüber je erwähnt?«
»O ja. Er hat mir von Roschmann erzählt. Das war es, was ihn überhaupt am Leben gehalten hat – die Hoffnung, eines Tages gegen Roschmann aussagen zu können.«
»Das hat er auch in dem Tagebuch geschrieben. Ich habe es nach seinem Tod gelesen. Ich bin Reporter. Ich will versuchen, Roschmann ausfindig zu machen. Ich will ihn vor Gericht bringen, verstehen Sie?«
»Ja.«
»Aber wenn Roschmann tot ist, erübrigt sich die ganze Sache. Können Sie sich erinnern, ob Herr Tauber jemals erfahren hat, daß Roschmann lebt oder tot ist?«
Marx starrte minutenlang dem Heck der Kota Maru nach.
»Hauptsturmführer Roschmann lebt«, sagte er schließlich. »Und er ist ein freier Mann.«
Miller beugte sich vor.
»Woher
Weitere Kostenlose Bücher