Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
in dem Tagebuch immer wieder erwähnt wird. Einen SS-Hauptsturmführer Eduard Roschmann, der Kommandant des Ghettos von Riga war, und zwar von dessen Einrichtung bis zur Auflösung. Dieser Mann hat 80 000 Männer, Frauen und Kinder umgebracht. Ich glaube, er lebt und hält sich hier irgendwo in Westdeutschland auf. Ich will ihn ausfindig machen.«
»Woher wissen Sie, daß er lebt?«
Miller berichtete ihm kurz, was er in Erfahrung gebracht hatte. Hoffmann verzog den Mund.
»Ziemlich mager, Ihre Anhaltspunkte.«
»Stimmt. Aber es lohnt sich, nachzufassen. Ich habe schon manche Story an Land gezogen, bei der ich mit weit weniger konkreten Informationen anfangen mußte.«
Hoffmann grinste anerkennend. Er kannte und schätzte Millers Talent, Geschichten aufzuspüren, die dem Establishment nicht zur Ehre gereichten. Er hatte nie gezögert, Millers Stories zu veröffentlichen, sobald sie sich als hieb- und stichfest recherchiert erwiesen. Sie erzielten nachweislich beträchtliche Auflagensteigerungen.
»Dann dürfte dieser Mann – wie hieß er doch? Roschmann? –, also dieser Roschmann dürfte vermutlich längst auf der Fahndungsliste stehen. Und wenn die Polizei ihn nicht finden kann – was veranlaßt Sie zu dem Glauben, daß Sie es könnten?«
»Ist die Polizei denn tatsächlich hinter ihm her?«
Hoffmann zuckte mit den Achseln.
»Das ist immerhin anzunehmen. Schließlich wird sie dafür bezahlt.«
»Es kann doch nicht schaden, ein bißchen nachzuhelfen, oder? Bloß nachzuprüfen, ob er wirklich noch lebt, ob er jemals festgenommen wurde, und wenn, was dann mit ihm geschehen ist.«
»Und was soll ich dabei tun?« fragte Hoffmann.
»Mir grünes Licht geben, mein Glück zu versuchen. Wenn nichts dabei herauskommt, gebe ich die Sache auf.«
Hoffmann wandte sich auf seinem Drehstuhl der Fensterfront zu, die den Blick vom zwölften Stockwerk freigab auf die ein Kilometer entfernten Hafenanlagen mit ihren Kränen, Kais und Werften, die sich kilometerweit hinzogen.
»Das liegt eigentlich gar nicht auf Ihrer Linie, Miller. Woher kommt dieses plötzliche Interesse?«
Miller überlegte scharf. Eine Idee zu verkaufen war immer das erste und schwierigste. Als freier Reporter mußte man seine Story oder Idee zuerst dem Herausgeber oder Redakteur verkaufen. Auf die Leser kam es erst in zweiter Linie an.
»Es ist eine gute Human-Interest-Story. Wenn Komet den Mann fände, den die Polizeibehörden in all den Jahren nicht gefaßt haben, dann wäre das ein Mordsknüller. So etwas wollen die Leute doch wissen.«
Hoffmann starrte zum Fenster hinaus in den Dezemberhimmel und schüttelte den Kopf.
»Sie irren sich. Ich würde vielmehr sagen, daß es das letzte ist, was die Leute wissen wollen. Und deswegen gebe ich Ihnen den Auftrag auch nicht.«
»Aber hören Sie, Herr Hoffmann, hier liegen die Dinge doch ganz anders. Die Menschen, die Roschmann umgebracht hat, das sind keine Polen oder Russen gewesen. Das waren Deutsche, meinetwegen deutsche Juden, aber sie waren doch Deutsche. Warum sollten die Leute nichts davon wissen wollen?«
Hoffmann wandte sich vom Fenster ab, stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte und das Kinn auf die Handgelenke.
»Miller, Sie sind ein ausgezeichneter Reporter«, sagte er. »Ich schätze Ihre Art, Reportagen aufzuziehen. Sie haben Stil, und Sie haben auch eine gute Spürnase. Ich kann in dieser Stadt jederzeit zwanzig, fünfzig oder hundert Leute herbeizitieren. Ein Anruf genügt, und die tun genau das, was sie gesagt bekommen. Sie liefern die Stories ab, auf die sie angesetzt werden, aber sie kommen nicht selbst auf ein Thema. Sie dagegen tun das, und das ist der Grund, weswegen wir so gut miteinander ins Geschäft gekommen sind und in Zukunft zweifellos noch viel besser miteinander ins Geschäft kommen werden. Aber nicht mit dieser Sache.«
»Warum nicht? Es ist eine gute Story.«
»Hören Sie, Miller. Sie sind jung. Ich werde Ihnen mal etwas sagen, was Sie sich offenbar noch nicht klargemacht haben. Journalismus besteht zur einen Hälfte darin, gute Reportagen zu schreiben, und zur anderen darin, sie zu verkaufen. Sie können gut schreiben, und zwar ganz ausgezeichnet, und ich kann besser verkaufen. Deswegen sitze ich hier auf diesem Stuhl, und Sie sitzen auf Ihrem. Sie glauben, Sie haben da eine Geschichte, die bei uns alle Welt lesen will, weil die Opfer von Riga deutsche Juden waren. Und ich sage Ihnen, aus eben diesem Grund wird niemand diese Geschichte lesen wollen. Es ist
Weitere Kostenlose Bücher