Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
ihrem Verhältnis zur Öffentlichkeit zugute.«
Der Justizbeamte lächelte säuerlich.
»Ich bezweifle nicht, daß Sie in dieser Hinsicht eine wertvolle Funktion erfüllen«, sagte er. »Aber diese Abteilung darf keine Auskünfte über den Stand ihrer Ermittlungen erteilen.« Ihm schien ein einleuchtendes Argument eingefallen zu sein. »Machen wir uns doch nichts vor – wenn steckbrieflich gesuchte Kriminelle davon erführen, daß wir vor dem Abschluß der Anklagevorbereitung stehen, dann würden sie doch das Weite suchen.«
»Da haben Sie allerdings recht«, entgegnete Miller. »Aber den Zeitungsberichten zufolge hat Ihre Abteilung bisher lediglich gegen drei einfache SS-Männer, die zum Lagerpersonal von Riga gehörten, Anklage erhoben. Und das war 1950, die Männer werden also vermutlich bereits in Untersuchungshaft gewesen sein, als die Engländer sie den deutschen Behörden übergaben. Ihre steckbrieflich gesuchten Kriminellen scheinen demnach schwerlich Gefahr zu laufen, in absehbarer Zeit das Weite suchen zu müssen.«
»Hören Sie, ich verbitte mir …«
»Schon gut. Ihre Ermittlungen sind also in vollem Gange. Es würde Ihrem Fall aber dennoch in keiner Weise abträglich sein, wenn Sie mir ganz einfach sagten, ob überhaupt gegen Eduard Roschmann ermittelt wird und wo er sich jetzt aufhält.«
»In den Sachen, die in den Zuständigkeitsbereich meiner Abteilung fallen, wird laufend ermittelt. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Ich wiederhole: es wird laufend ermittelt. Und jetzt, Herr Miller, wüßte ich nicht, womit ich Ihnen noch dienen könnte.«
Er stand auf, und Miller blieb nichts andres übrig, als dasselbe zu tun.
»Übernehmen Sie sich nur nicht«, sagte er im Hinausgehen.
Es verging eine Woche, bis Miller reisefertig war. Die meiste Zeit verbrachte er zu Hause; er las mehrere Bücher, die ausschließlich oder teilweise vom Krieg im Osten und von den Dingen handelten, die sich in den Lagern der eroberten Gebiete im Osten abgespielt hatten. Der Bibliotheksangestellte in der öffentlichen Bibliothek seines Stadtviertels schließlich erwähnte die »Zentralstelle«. Miller hatte schon davon gehört, wußte aber nichts Genaues darüber.
»Sie ist in Ludwigsburg«, sagte der Bibliothekar. »Ich habe kürzlich in der Zeitung darüber gelesen. Die amtliche Bezeichnung lautet Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen. Man nennt sie kurz die ›Zentralstelle‹. Es ist die einzige Behörde in der Bundesrepublik, die auf bundesweiter, ja sogar internationaler Ebene Jagd auf Nazis macht.«
»Danke«, sagte Miller, als er ging. »Mal sehen, ob die mir weiterhelfen können.«
Am anderen Morgen suchte er seine Bank auf, stellte seinem Vermieter einen Scheck über drei Monatsmieten aus – Januar bis März – und hob den Rest des Geldes vom Konto ab. Zehn Mark ließ er drauf, um das Konto aufrechtzuerhalten. Er küßte Sigi, als sie zur Arbeit in den Klub ging, und sagte ihr, er werde für acht, möglicherweise auch vierzehn Tage verreisen. Dann holte er den Jaguar aus der Tiefgarage und fuhr nach Südwesten in Richtung Rheinland.
Die ersten Schneefälle hatten eingesetzt und trieben in dichtem Gestöber über die Autobahn.
Nach zwei Stunden legte er eine Pause ein, um Kaffee zu trinken. Dann fuhr er weiter in Richtung Nordrhein-Westfalen. Der Wind war stark, aber Miller genoß es, auch bei schlechtem Wetter auf der Autobahn zu fahren. Der gedämpfte Lichtschein der Armaturenbeleuchtung, ringsum die einbrechende Dunkelheit des Winterabends, das windgepeitschte Schneegestöber, die sekundenlang im grellen Scheinwerferlicht aufleuchtenden und wieder ins Nichts zurückfallenden Flocken, die diagonal an der Windschutzscheibe vorüberstrichen – alles das gab ihm das Gefühl, im Cockpit eines schnellen Flugzeugs zu sitzen statt in seinem XK 150 S.
Er blieb wie immer auf der Überholspur und fuhr fast 160 Stundenkilometer; die dröhnenden Lastwagenungetüme auf der rechten Fahrbahn behielt er wachsam im Auge, wenn er an ihnen vorbeizog.
Gegen 18 Uhr hatte er das Autobahnkreuz von Hamm bereits hinter sich gelassen. In der Ferne zu seiner Rechten flackerten schon die Hochofenfeuer des Ruhrgebiets. Er war jedesmal fasziniert, wenn er durch das Ruhrgebiet kam, wo sich Kilometer um Kilometer Fabrik an Fabrik, Schlot an Schlot, Ortschaft an Ortschaft reihte zu einer gigantischen Superstadt scheinbar ohne Ende. Die Autobahn führte jetzt über eine Anhöhe, und Miller sah, wie sich die Fabriken, Schlote
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