Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
die halbwüchsigen Werwölfe in der Technik des Widerstands unterwiesen. Er übernahm den Titel als Decknamen. Die Bezeichnung war so melodramatisch, wie man es liebte, aber die Bedenkenlosigkeit, mit der die ODESSA gegen jeden vorging, der ihren Plänen im Weg stand, war alles andere als bloß theatralisch. Ende 1963 amtierte der dritte Werwolf. Er war ein ungemein fanatischer und verschlagener Mann und stand in ständigem Kontakt mit seinen Vorgesetzten in Argentinien. Er kümmerte sich um ehemalige SS-Angehörige in der Bundesrepublik, besonders aber um Ranghöhere und die Männer auf den ersten Plätzen der Fahndungsliste.
Der Werwolf starrte aus dem Fenster seiner Anwaltskanzlei und dachte an seine fünfunddreißig Tage zurückliegende Begegnung mit Gruppenführer Glücks in Madrid. Der Gruppenführer hatte ihn eindringlich auf die überragende Bedeutung des Mannes unter dem Decknamen Vulkan hingewiesen. Seine Anonymität und Sicherheit als Besitzer einer Fabrik für Rundfunkgeräte mußte unter allen Umständen gewahrt bleiben, denn Vulkan bereitete die Entwicklung des Fernlenksystems für die ägyptischen Raketen vor. Außer ihm wußte niemand in Deutschland, daß Vulkan in einer früheren Phase seines Lebens unter seinem richtigen Namen Eduard Roschmann bekannt gewesen war.
Er warf einen Blick auf den Notizzettel mit Millers Autonummer und drückte einen Klingelknopf auf seinem Tisch. Von nebenan meldete sich die Stimme seiner Sekretärin.
»Sagen Sie, Hilda, wie hieß der Privatdetektiv, den wir vor einem Monat in dem Scheidungsfall beschäftigt haben?«
»Einen Augenblick –« das Geräusch von raschelndem Papier kam durch den Sprechapparat, als sie im Verzeichnis nachschaute, »er hieß Memmers, Heinz Memmers.«
»Geben Sie mir doch bitte seine Telefonnummer, ja? Nein, rufen Sie ihn nicht an, sagen Sie mir nur seine Nummer durch.«
Er schrieb sie unter Millers Autonummer und nahm den Finger von der Taste der Sprechanlage.
Dann stand er auf und ging zu dem Safe, der in einen Betonblock in der Wand eingelassen war. Er nahm ein dickes, schweres Buch aus dem Tresor und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Er brauchte nicht lange zu blättern, bis er den gesuchten Eintrag fand. Es waren nur zwei Memmers aufgeführt, Heinrich, genannt Heinz – und Walter. Er ließ seinen Finger auf der dem Eintrag »Memmers, Heinrich« gegenüberliegenden Seite hinunterwandern, fand das Geburtsdatum, rechnete aus, wie alt der Mann jetzt war, und rief sich das Gesicht des Privatdetektivs in Erinnerung. Sein Alter stimmte mit dem Geburtsdatum im Buch überein. Er notierte sich zwei Nummern, die unter dem Namen Heinz Memmers aufgeführt waren, nahm den Hörer auf und bat Hilda, ihm eine freie Leitung zu geben.
Als das Freizeichen hörbar wurde, wählte er die Nummer, die sie ihm genannt hatte. Nachdem das Rufzeichen ein dutzendmal ertönt war, wurde am anderen Ende der Leitung der Hörer abgenommen. Eine weibliche Stimme meldete sich.
»Privatauskunft Memmers.«
»Verbinden Sie mich mit Herrn Memmers persönlich.«
»Darf ich fragen, wer spricht?« fragte die Sekretärin.
»Nein. Verbinden Sie mich mit ihm. Und zwar schnell.«
Ein kurzes Schweigen folgte. Der barsche Tonfall wirkte.
»Ja, mein Herr, sofort.«
Eine Minute später sagte eine rauhe Stimme: »Memmers.«
»Bin ich mit Herrn Heinz Memmers verbunden?«
»Am Apparat. Wer spricht da?«
»Mein Name tut nichts zur Sache. Ist unwichtig. Ich möchte nur hören, ob Ihnen die Nummer 245.718 etwas sagt?«
In der Leitung herrschte tödliche Stille. Memmers unterbrach sie mit einem gepreßten Seufzer. Er hatte begriffen – das war seine SS-Nummer. Das Buch, das aufgeschlagen auf dem Tisch des Werwolfs lag, enthielt eine Liste aller ehemaligen SS-Angehörigen. Memmers hatte die Sprache wiedergefunden. Seine Stimme klang argwöhnisch.
»Sollte sie das?«
»Bedeutet es Ihnen etwas, wenn ich Ihnen sage, daß meine eigene Nummer nur fünfstellig ist, Kamerad?«
Das hatte seine Wirkung. Fünf Ziffern – das bedeutete einen hohen Dienstrang.
»Das allerdings, jawohl«, beeilte sich Memmers zu versichern.
»Gut«, sagte der Werwolf. »Ich habe da eine kleine Aufgabe für Sie. Irgend so ein Schnüffler hat seine Nase in die Personalakte eines unserer Kameraden gesteckt. Ich muß herausfinden, wer der Kerl ist.«
»Ich werde alles tun, Sturmbann…«
»Ausgezeichnet. Aber unter uns könnten wir es ruhig bei ›Kamerad‹ belassen. Schließlich sind wir ja
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