Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
berufen, wenn ich zum Document Center gehe.«
»Aber ich habe dir doch gesagt, daß du mich bei dieser ganzen Sache aus dem Spiel lassen sollst.«
»Also mit drin bist du in jedem Fall«, sagte Miller. Er wartete ein paar Sekunden, bevor er den entscheidenden Schlag landete. »Entweder bekomme ich die offizielle Genehmigung, Einblick in das Archiv zu nehmen, oder ich gehe einfach hin und behaupte, daß du mich geschickt hast.«
»Das kriegst du doch wohl nicht fertig«, sagte Brandt.
»Und ob! Mir hängt es langsam zum Hals heraus, kreuz und quer durch unsere schöne Republik geschickt zu werden. Also finde jemanden, der mir offiziellen Zugang zum Document Center verschafft. Du kannst es ruhig zugeben – spätestens eine Stunde, nachdem ich mir die Unterlagen angesehen habe, kräht doch kein Hahn mehr danach, von wem der Antrag gestellt wurde.«
»Ich muß nachdenken«, sagte Brandt ausweichend. Er versuchte, Zeit zu gewinnen.
»Tu das«, sagte Miller. »Ich geb dir eine Stunde dafür. Dann rufe ich zurück.« Er schmetterte den Hörer auf die Gabel.
Eine Stunde später war Brandt genauso wütend wie vorher. Er wünschte von Herzen, er hätte dieses verdammte Tagebuch behalten oder einfach weggeworfen.
»Da gibt es in der Tat einen Mann, mit dem ich auf der Kripo-Schule war«, sagte er. »Nicht daß ich ihn besonders gut gekannt habe, aber der sitzt jetzt im Dezernat I der Berliner Polizeibehörde. Das ist übrigens mit diesen Dingen befaßt.«
»Wie heißt er?«
»Schiller. Volkmar Schiller, Kriminalinspektor.«
»Ich werde mich mit ihm in Verbindung setzen«, sagte Miller.
»Nein, überlaß das mir. Ich rufe ihn noch heute an und erkläre ihm, wer du bist. Danach kannst du dich mit ihm verabreden. Wenn er nicht bereit ist, dir das gewünschte Entree zu verschaffen, gib also bitte nicht mir die Schuld. Er ist der einzige, den ich in Berlin kenne.«
Zwei Stunden später rief Miller Brandt noch mal an. Brandts Stimme klang merklich erleichtert.
»Er ist in Urlaub«, berichtete er. »Die Kollegen in Berlin haben mir aber gesagt, er muß über Weihnachten Dienst machen. Dann ist er also am Montag wieder da.‹‹
»Aber heute ist doch erst Mittwoch«, sagte Miller. »Das heißt also, daß ich vier Tage hier herumhängen muß.«
»Tut mir leid, ich kann’s nicht ändern. Montag morgen wird er zurückerwartet. Dann rufe ich ihn gleich an.«
Miller verbrachte vier langweilige Tage in West-Berlin und wartete auf Schillers Rückkehr aus dem Urlaub. In den vorweihnachtlichen Tagen des Jahres 1963 schien Berlin nur von einem einzigen Thema beherrscht zu sein. Erstmals seit Errichtung der Mauer im August 1961 gaben die DDR-Behörden Tagesaufenthaltsgenehmigungen für Verwandtenbesuche in Ost-Berlin an West-Berliner Bürger aus. Der Fortgang der Verhandlungen zwischen den beiden Seiten beherrschte seit Tagen die Schlagzeilen. Am Wochenende fuhr Miller, der als Westdeutscher nur seinen Reisepaß vorweisen mußte, zum Grenzübergang an der Heinrich-Heine-Straße. Er besuchte einen flüchtigen Bekannten in Ost-Berlin, der dort als Reuter-Korrespondent arbeitete. Aber der Mann steckte bis über beide Ohren in einer Mauer-Story, und nach einer Tasse Kaffee verabschiedete sich Miller und fuhr zurück nach West-Berlin.
Am Montagmorgen suchte er Kriminalinspektor Schiller auf. Zu seiner Erleichterung war das ein Mann etwa seines Alters. Außerdem schien er einer eher flexiblen Auslegung bürokratischer Vorschriften nicht abgeneigt zu sein. Zweifellos würde er es mit dieser Einstellung nicht weit bringen, aber das war nicht Millers Problem. Er erklärte ihm rasch, was er wollte.
»Ich sehe keinen Grund, warum das nicht möglich sein sollte«, sagte Schiller. »Uns Beamten vom Dezernat I gegenüber sind die Amerikaner sehr hilfsbereit. Weil Willy Brandt uns mit der Aufklärung von Naziverbrechen beauftragt hat, haben wir fast jeden Tag im Document Center zu tun.«
In Millers Jaguar fuhren sie zum Wasserkäfersteig 1 nach Zehlendorf. Sie hielten vor einem baumbestandenen Grundstück mit einem einstöckigen, langgestreckten niedrigen Gebäude.
»Das ist alles?« fragte Miller ungläubig.
»Nicht sehr eindrucksvoll, was?« sagte Schiller. »Aber es ist mehrere Stockwerke tief unterkellert. Da ist das Archiv. Das Material der Personalkartei wird in feuersicheren Gewölben verwahrt.«
Sie betraten das Gebäude durch den Haupteingang. In dem kleinen Vorraum trat Schiller an die Pförtnerloge und wies seinen
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