Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
Dinge, und so wurde ich Deutschlandkorrespondent für meine Zeitung.«
»Haben Sie damals auch über Kriegsverbrecherprozesse in den Besatzungszonen berichtet?«
Cadbury, der gerade ein Filetstück zum Mund geführt hatte, nickte kauend. »Ja. Über alle, die in der britischen Zone stattfanden. Zu den Nürnberger Prozessen entsandten wir allerdings einen speziellen Gerichtsberichterstatter. Nürnberg lag ja in der amerikanischen Zone. Die berüchtigten Verbrecher gegen die Menschlichkeit, denen wir damals den Prozeß machten, waren Josef Kramer und Irma Grese. Haben Sie je von denen gehört?«
»Nein, nie.«
»Man nannte sie die Bestien von Bergen-Belsen. Den Namen habe ich übrigens damals erfunden, und er wurde dann von allen Korrespondenten aufgegriffen. Haben Sie von Bergen-Belsen gehört?«
»Ja«, sagte Miller, und nach einer Weile: »Darf ich Sie etwas fragen? Hassen Sie die Deutschen?«
Cadbury schien ein wenig länger zu kauen, als es das zarte Filetfleisch erfordert hätte; er dachte ernsthaft über die Frage nach.
»Unmittelbar nach der Einnahme des Lagers Bergen-Belsen fuhr eine Gruppe Journalisten dorthin, die der britischen Armee zugeteilt war. Sie wollten sich aus erster Hand ein Bild machen. In meinem ganzen Leben hat mich nichts so elend gemacht wie das, was ich in dem Lager zu sehen bekam – und im Krieg sieht man bekanntlich eine Menge scheußlicher Dinge. Aber nichts, was sich auch nur im entferntesten mit Bergen-Belsen vergleichen ließ. Ich glaube, in dem Augenblick – ja, in dem Augenblick habe ich die Deutschen gehaßt.«
»Und heute?«
»Nein. Schon lange nicht mehr. Ich bitte Sie – schließlich bin ich seit 1949 mit einer Deutschen verheiratet. Ich lebe noch immer hier. Ich täte das nicht, wenn ich noch immer genauso empfände wie 1945. Ich wäre längst nach England zurückgegangen.«
»Was hat den Wandel bewirkt?«
»Die Zeit. Die Zeit, die seither vergangen ist. Und die Einsicht, daß nicht alle Deutschen Josef Kramers waren. Oder – wie hieß er doch? – Roschmanns. Gegenüber den Deutschen meiner Generation habe ich ein gewisses Mißtrauen allerdings nie ganz überwinden können.«
»Und wie ist es mit den Deutschen meiner Generation?« Miller drehte sein Glas zwischen den Fingern und starrte auf die Lichtreflexe im Rotwein.
»Die sind zum Glück ganz anders«, sagte Cadbury. »Aber ich fänd’s auch schlimm, wenn’s nicht so wäre.«
»Werden Sie mir bei der Roschmann-Ermittlung behilflich sein? Niemand sonst ist dazu bereit.«
»Wenn ich das kann«, sagte Cadbury. »Was wollen Sie wissen?«
»Können Sie sich noch entsinnen, ob er in der britischen Zone jemals vor Gericht gestellt wurde?«
Cadbury schüttelte den Kopf.
»Nein. Im übrigen sagten Sie, er sei Österreicher von Geburt.
Österreich war damals auch unter Viermächteverwaltung. Aber ich bin ganz sicher, daß in der britischen Besatzungszone keine Verhandlung gegen Roschmann stattgefunden hat. Ich würde mich an den Namen erinnern, wenn das der Fall gewesen wäre.«
»Aber warum haben dann die britischen Behörden von den Amerikanern in Berlin eine Photokopie seiner Personalakte angefordert?«
Cadbury überlegte kurz.
»Die Engländer müssen auf irgendeine Weise auf Roschmann aufmerksam geworden sein. Von Riga wußte man damals noch nichts. Die feindselige Haltung der Russen hatte in den späten vierziger Jahren ihren Höhepunkt erreicht. Sie verweigerten uns jegliche Information aus dem Osten, obwohl gerade dort die Mehrzahl der Massenmorde verübt worden war. Etwa achtzig Prozent aller Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren östlich des späteren Eisernen Vorhangs begangen worden, und die dafür Verantwortlichen hielten sich zu rund neunzig Prozent in den drei westlichen Besatzungszonen auf. Hunderte von Kriegsverbrechern sind uns unerkannt entkommen, weil wir von dem, was sie zweitausend Kilometer weiter östlich verbrochen hatten, nichts wußten. Das war die Situation. Aber wenn 1947 gegen Roschmann ermittelt wurde, dann müssen wir auf irgendeine Weise auf ihn aufmerksam geworden sein.«
»Das hatte ich vermutet«, sagte Miller. »In welchen britischen Archiven würde man denn zuerst nachschauen?«
»Nun, wir könnten mit meinem anfangen. Es ist bei mir zu Hause. Kommen Sie, es ist nicht weit.«
Zum Glück war Cadbury ein Mann von ungemein methodischer Arbeitsweise; er hatte alle seine Artikel aufbewahrt. Zwei Wände seines Arbeitszimmers waren voll mit Karteikästen in Regalen, und
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