Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
rasieren. Er war ein großer, muskulöser Mann, der sein Mörderhandwerk als Unterscharführer in der SS-Division »Das Reich« von der Pike auf erlernt hatte, als er 1944 in Tulle und Limoges französische Geiseln henkte.
Nach dem Krieg war er Lastwagenfahrer für die ODESSA gewesen und hatte menschliche Konterbande durch Deutschland und Österreich in die italienische Provinz Südtirol befördert. Als er 1946 von einer amerikanischen Patrouille gestoppt wurde, hatte er alle vier Insassen des Jeeps umgebracht – zwei davon mit seinen bloßen Händen. Seither war auch er untergetaucht und auf der Flucht.
Später diente er unter dem Spitznamen »Mack the Knife« als Leibwächter höherer ODESSA-Chargen, obwohl er nie ein Messer benutzte. Er verließ sich auf die Kraft seiner Schlächterhände und erwürgte seine Opfer lieber oder brach ihnen das Genick.
Von seinen Vorgesetzten wurde er hochgeschätzt. Er war Mitte der fünfziger Jahre zum Henker der ODESSA avanciert und hatte sich bewährt. Bei ihm konnte man sich hundertprozentig darauf verlassen, daß er Außenstehende, die den Männern der Führungsspitze gefährlich wurden, oder auch Verräter aus den eigenen Reihen, die ihre Kameraden verpfiffen hatten, ebenso diskret wie gründlich erledigte. Bis Januar 1964 hatte er schon zwölf Aufträge dieser Art ausgeführt – allesamt zur vollsten Zufriedenheit seiner Vorgesetzten.
Der Anruf kam Punkt 8 Uhr. Er wurde von dem Angestellten in der Rezeption entgegengenommen. Er holte Miller aus dem kleinen Fernsehsalon ans Telefon.
»Herr Miller? Ich bin es, Motti. Ich glaube, ich kann Ihnen weiterhelfen. Oder vielmehr, ein paar Freunde von mir können es vielleicht. Hätten Sie Lust, sich mit ihnen zu treffen?«
»Ich treffe mich mit jedem, der mir irgendwie weiterhelfen kann«, sagte Miller.
»Gut«, sagte Motti. »Wenn Sie aus Ihrem Hotel kommen, wenden Sie sich nach links und gehen die Schillerstraße hinunter. Zwei Ecken weiter auf der gleichen Straßenseite finden Sie die Konditorei Lindemann. Da treffen Sie mich.«
»Wann, jetzt?« fragte Miller.
»Ja, jetzt gleich. Ich wäre zu Ihnen ins Hotel gekommen, aber ich habe meine Freunde hier.«
Er legte auf. Miller nahm seinen Mantel und verließ das Hotel. Er wandte sich nach links und machte sich auf den Weg zum Café Lindemann. Er hatte einen halben Block vom Hotel zurückgelegt, als ihm etwas von hinten gegen die Rippen gedrückt wurde. Ein Wagen hielt neben ihm am Bordstein. »Setzen Sie sich auf den Rücksitz«, sagte eine Stimme nahe an seinem Ohr. Die Autotür sprang auf. Der Druck des Gegenstandes in seinem Rücken verstärkte sich. Miller zog den Kopf ein und stieg in den Wagen. Außer dem Fahrer war noch ein Mann darin; er saß im Fond und rückte zur Seite, um Miller Platz zu machen. Der Mann hinter Miller stieg ebenfalls ein. Dann wurde die Tür zugeschlagen, und der Wagen fuhr an.
Miller spürte ein heftiges Herzklopfen. Er hatte die drei Männer, die mit ihm im Wagen saßen, nie gesehen. Der Mann, der ihm die Tür aufgehalten hatte, redete als erster.
»Ich verbinde Ihnen jetzt die Augen«, sagte er. »Sie brauchen nicht unbedingt zu wissen, wohin wir fahren.«
Miller fühlte, wie ihm eine Art Socke über den Kopf gezogen wurde, bis sie seine Nase bedeckte. Rechts und links packten ihn Arme mit hartem Griff und drückten ihn tief hinunter in den Sitz, offenbar damit kein Passant Verdacht schöpfen sollte. Er mußte an die eiskalten blauen Augen von Dr. Schmidt denken, der ihn im Hotel Dreesen angesprochen hatte. Ihm fiel wieder ein, was ihm Wiesenthal in Wien gesagt hatte: »Seien Sie vorsichtig, die Männer von der ODESSA sind gefährlich.« Dann dachte er wieder an Motti und fragte sich, wie ein Mann von der ODESSA wohl dazu kam, in einem jüdischen Gemeindehaus hebräische Zeitungen zu lesen.
Nach fünfundzwanzig Minuten fuhr der Wagen langsamer, und kurz darauf hielt er mit laufendem Motor. Miller hörte, wie ein Tor geöffnet wurde. Der Wagen fuhr wieder an und hielt dann. Gleich darauf wurde der Motor ausgeschaltet. Man half ihm aus dem Wagen und begleitete ihn über einen Hof. Ein paar Augenblicke lang spürte er die kalte Nachtluft an der unbedeckten Gesichtshälfte, dann war er in einem Haus. Eine Tür schlug hinter ihm zu, und er wurde eine Treppe hinuntergeleitet – offenbar in einen Kellerraum. Es war warm. Er wurde zu einem bequemen Sessel geführt.
Er hörte jemanden sagen: »Nehmen Sie ihm die Binde ab«, und die Socke
Weitere Kostenlose Bücher