Die Akte Rosenthal - Seelenfischer-Trilogie 03
machte sich darauf gefasst, dass sich Lukas erneut auf ihn stürzen würde. Wütend genug schien er ja zu sein. Es war deutlich zu sehen, wie sein Freund mit seiner Wut kämpfte. Wenigstens blieb er sitzen. Gut. Jules entspannte sich wieder. Die Kabine der Cessna war eindeutig zu niedrig zum Stehen, geschweige denn geeignet für ein Handgemenge.
„Ich warte auf deine Erklärung, Jules.“ Verachtung lag in Lukas' Stimme.
Die Blicke der beiden Männer prallten wie Klingen aufeinander. Jules begriff, dass er bei Lukas nicht mit Ausflüchten weiterkommen würde. Das Misstrauen zersetzte sein Vertrauen, sein Freund würde keine Ruhe geben. Entweder er setzte ihn außer Gefecht und fesselte ihn, oder er sagte ihm die Wahrheit. Wenn die Sache in London gut ausging, überlegte Jules, dann würde sowieso alles bald ans Licht kommen. Wenn die Sache allerdings schiefging, dann wären er, Rabea und alle, die von der Akte gewusst hatten, in kürzester Zeit tot.
Trotzdem zögerte Jules. Er war damals von Rabea genötigt worden, einen heiligen Eid auf den Koran zu schwören. Er hatte damals geahnt, dass er diesen Schwur irgendwann würde brechen müssen. Nun war es soweit. Jules war ein weltoffener Muslim, aber er war nicht derart abgeklärt, dass er einem heiligen Eid zuwiderhandeln konnte, ohne sich vor der ewigen Verdammnis zu fürchten. Heute würde er einen heiligen Schwur gegen das Gebot der Notwendigkeit eintauschen. Er hoffte, dass wenigstens der Allmächtige ein Einsehen mit ihm haben würde.
Das Schweigen zwischen den beiden Männern dehnte sich aus. Lukas notierte Jules' Zögern. Es bestätigte seinen Verdacht. Sein Freund verschwieg ihm etwas. Er wusste, dass Jules ein Mann der Geheimnisse war und Geheimnisse konnten alles sein: fürchterlich und erschreckend, tragisch und lange nachwirkend. Niemand konnte mehr darüber wissen als ein Mitglied der Familie von Stetten, deren düsteres Familiengeheimnis das Schicksal unzähliger Generationen bestimmt hatte.
„Was ist los, Jules?“, durchbrach er die Schweigefront. „Fällt es dir so schwer, mir die Wahrheit zu sagen?“, höhnte er.
Jules sah ihn gequält an. „Schon gut, Lukas. Ich werde dir alles erklären, aber ich kann auf keinen Fall umkehren. Du wirst wohl oder übel mit nach London müssen. Komm nach vorne ins Cockpit.“
Lukas folgte ihm misstrauisch. Während Jules kurz die Instrumente prüfte und mit dem Tower sprach, starrte er düster vor sich hin. Längst war es dunkel geworden.
Jules setzte die Kopfhörer ab und wandte sich halb seinem Freund zu. „Hör zu, Lukas, es ist nicht so, wie du denkst.“
„Ach, was denke ich denn?“ Lukas wusste, dass er sich wie ein kleiner Junge anhörte, aber er war übermüdet, körperlich und geistig erschöpft, hatte Angst um seinen Sohn und vor allem war er immer noch extrem wütend. Allein die Wut hielt ihn noch auf den Beinen.
„Kannst du dich an die Wochen nach Rabeas Beerdigung erinnern und wie es ihrem Großvater ging?“
„Natürlich! Viel fehlte nicht und wir hätten ihn auch verloren. Was soll das jetzt? Lenke nicht vom Thema ab.“
„Tue ich nicht. Auf jeden Fall hat er sich gut und überraschend schnell erholt. Das hatte seinen Grund.“
„Ach ja? Ich dachte, es läge vielleicht daran, dass wir alle uns um ihn gekümmert und ihm das Gefühl gegeben haben, dass er nicht alleine ist und er trotz allem noch eine Familie hat.“
„Sicher, aber es lag vor allem daran, weil er erfahren hatte, dass Rabea noch lebt. Sie ist es, die jetzt meine Hilfe braucht. Darum fliege ich nach London.“ Jules fand, dass es keine schonende Methode gab, um jemanden mitzuteilen, dass die Liebe seines Lebens gar nicht tot war, sondern in London weilte. Und vielleicht wirklich bald tot war, wenn er die Angelegenheit nicht für sie in Ordnung bringen konnte.
Angespannt wartete Jules auf Lukas' Reaktion. Die nicht erfolgte. Jedenfalls nicht gleich. Lukas starrte Jules erst einmal sekundenlang an. „Ungeheuerlich“, brach es endlich aus ihm heraus. „Was erzählst du da für einen Mist? Für wie blöd hältst du mich eigentlich?“
„Wenn du mir nicht glaubst, dann vielleicht Rabbi Rosenthal. Wir können ihn anrufen. Hier, nimm das Satellitentelefon.“ Jules hatte keine Lust, lange mit Lukas zu diskutieren.
„Bist du verrückt? Ich rufe doch nicht Großvater Rosenthal an und stelle ihm so eine Frage“, entrüstete sich sein Freund.
Jules seufzte. „Es würde die Sache aber abkürzen. Also gut. Dann
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