Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Sachen Tubocurarin.
»Einen Moment bitte, ich stelle durch«, sagte die Voss, und das Telefon auf Raths Schreibtisch begann zu klingeln.
Er schloss die Tür und holte die Unterlagen der beiden toten Männer an seinen Platz, die Akte Wawerka aus Dortmund und die Akte Lamkau aus Berlin, legte seine Notizen daneben. Erst dann hob er ab.
Oberkommissar Watzke aus Dortmund war ein hilfsbereiter Kollege, aber er hatte auch nicht mehr zu bieten, als ohnehin in der Ermittlungsakte Wawerka stand.
»War der Mann vielleicht als gewalttätig bekannt?«, fragte Rath. »Die Sache mit der Schlägerei legt diese Vermutung doch nahe.«
»Bis auf diese eine Eintragung liegt nichts vor. Und dabei hat es sich um eine eher harmlose Kneipenschlägerei mit einem Kommunisten gehandelt, in deren Folge Wawerka bei den Kollegen auf der Wache Lütgendortmund gelandet ist. Sonst hat der Mann eine weiße Weste. Wir haben sein ganzes Vorleben durchleuchtet, sogar bei den Kollegen in Treuburg nachgefragt, aber auch dort galt Hans Wawerka als braver Bürger und Steuerzahler.«
»Wieso in Treuburg?«
»Seine Geburtsstadt. Da hat er gelebt und gearbeitet, bevor er zum Malochen nach Westfalen gekommen ist.«
»Treuburg, sagen Sie?« Rath war irritiert. Er blätterte in der Akte. »Aber … In der Akte steht … Moment …« – Endlich hatte er die Stelle gefunden. – »Marggrabowa.«
»Sie interessieren sich wohl nicht sehr für Ostpreußen?«
»Da möchte ich nicht tot überm Zaun hängen, wie man bei uns so sagt. Ich bin Rheinländer.«
»Marggrabowa und Treuburg sind ein und dieselbe Stadt.«
»Eine Stadt mit zwei Namen?«
»Marggrabowa hat sich vor vier Jahren einen neuen Namen gegeben. Die Einwohner wollten damit die Tatsache würdigen, dass bei der Volksabstimmung in Masuren neunzehnzwanzich gerade einmal zwei Bürger für Polen votiert, alle anderen aber treu zu Preußen und dem Reich gestanden haben.«
»Sie kennen sich aber verdammt gut aus in Ostpreußen, muss ich sagen.«
»Mein Vater stammt aus Königsberg. Aber da wollte er wohl nicht tot überm Zaun hängen und ist dann in den Westen gegangen.«
Watzke klang überhaupt nicht verschnupft, als er dies sagte, dennoch hatte Rath das Gefühl, gerade in einen größeren Fettnapf getreten zu sein.
»Nichts für ungut, Kollege«, sagte er. »Ich habe wirklich nichts gegen Ostpreußen, habe mich bislang nur nicht sonderlich damit beschäftigt. Also noch mal zum Mitschreiben: heute Treuburg, früher Marggrabowa.«
»Steht auch im Brockhaus, wenn Sie’s nachschlagen wollen. Kreisstadt des Landkreises Oletzko.«
Watzke erzählte noch mehr, doch Rath hörte schon nicht mehr richtig zu. Ein Wort, das der Dortmunder Kollege eben genannt hatte, hallte in seinem Kopf nach. Er war vor Kurzem schon einmal darauf gestoßen, er wusste nicht wo, er wusste nur, dass da irgendetwas war, ein Zipfel, nach dem er greifen konnte, ein Zusammenhang, eine Gemeinsamkeit, etwas, das in den Akten zu finden war, etwas, das er dort schon einmal gelesen hatte. Er dankte dem Kollegen für den Anruf und legte auf. Dann wühlte er sich durch die beiden Mordakten auf seinem Schreibtisch, suchte fieberhaft, blätterte durch jede einzelne Seite, durch jedes einzelne Dokument und versuchte sich zu erinnern.
Schließlich hielt er Lamkaus Führerschein in den Händen, und das Gefühl, eine ganz heiße Spur zu haben, wurde zur Gewissheit, noch bevor sein Blick oder eigentlich eher sein Gedächtnis an dem Wort hängen blieb. An einem von vier Worten, die auf Lamkaus Passfoto gestempelt waren.
Landkreis Oletzko. Der Landrat.
Sein Instinkt hatte ihn nicht getäuscht. Er hatte ihn verdammt noch mal gefunden! Den Zusammenhang, nach dem er seit Tagen gesucht hatte.
24
E dith Lamkau zeigte sich erstaunt über das erneute Erscheinen der Polizei.
»Aber das habe ich Ihrem Kollegen doch gestern schon gesagt. Ich kenne diese Herren nicht, ich kenne auch diese Todesanzeigen nicht.«
»Aber Ihr Mann scheint sie gekannt zu haben. Jedenfalls einen von ihnen. Hans Wawerka.«
Sie zuckte die Achseln. »Auf seiner Beerdigung waren wir jedenfalls nicht.«
»Schauen Sie sich das Foto doch noch einmal an.« Rath zeigte ihr das Polizeifoto aus der Dortmunder Akte. »Vielleicht haben Sie Herrn Wawerka ja doch schon einmal irgendwo gesehen. Hat Ihren Mann vielleicht mal besucht …«
Die Witwe zog angewidert den Kopf zurück, als habe das Foto Mundgeruch. Sie zeigte auf die Schiefertafel mit der Nummer, die Wawerka sich
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