Die Albertis: Roman (German Edition)
eine Locke aus der Stirn strich und dazwischen ermahnte, ordentlich zu essen.
»Lilli«, jubelte sie. »Stell dir vor … oh, stell dir doch bloß vor …« Sie riss sämtliche Türen auf, stürmte ins Freie und die Außentreppe empor.
Aber Lilli war nicht da. Judith spähte ungeduldig durch einen Vorhang und bemerkte lediglich Papagei Cäsar, der sie böse aus halbgeöffneten Augen musterte und zu kreischen begann.
»Mutter?« Judith beugte sich über das hohe Holzgeländer. Aber nein, Lilli war auch nicht im Garten.
Ich muss einen größeren Terrassentisch kaufen, dachte sie plötzlich. Und dort, neben den Erdbeerstauden, wollte sie eine Schaukel für Oliver aufstellen. Sie lächelte. Immer, wenn sie das kleine Stückchen Land betrachtete, das sie zwar laienhaft, aber dafür mit sehr viel Liebe und Hingabe pflegte, wurde sie so froh und glücklich, als sei sie eine texanische Großgrundbesitzerin, deren stolzer Blick von Scholle zu Scholle des riesigen Besitztums wanderte. Sie würde Vater ewig dankbar sein, dass er, in kluger Voraussicht, sie zur Erbin des alten efeubewachsenen Hexenhauses bestimmt hatte und seiner Frau Lilli lediglich das Wohnrecht in der separaten Wohnung zugesprochen wurde, dafür aber mit kräftigem Kapitalausgleich. Denn Lilli hielt nicht viel von dem Haus, das zwar Charakter und Charme besaß, aber keinerlei Komfort bot.
»Charakter und Charme … Ich kann es nicht sonderlich charmant finden, mir im Badezimmer an allen Ecken und Enden den Kopf anzustoßen. Und die knarrenden Holztreppen finde ich ausgesprochen charakterlos.«
»Aber Mutter. Dafür haben wir den schönen Garten.«
Doch zu Gartenarbeit ließ Lilli sich nur herab, wenn Nachbar Petersen, ein rüstiger Witwer Ende Fünfzig, sich auf seiner Sonnenliege räkelte und ihr begehrliche Blicke zuwarf. Dann allerdings zog sie das Großgeblümte an, setzte einen Strohhut mit breiter Krempe auf, kramte alte Ballhandschuhe hervor und beschnitt die Rosenhecken so kokettierend und anmutig, als sei sie die bezaubernde Joséphine Bonaparte auf Malmaison und Nachbar Petersen ein beträchtlich aufgeschossener Napoleon.
Judith setzte sich unschlüssig auf den Treppenabsatz. Es war ein heißer Augusttag. Margeriten und Phlox leuchteten in sommerlicher Pracht, eine blaue Clematis rankte sich um das Blumengitter, Astern und Dahlien nickten mit den Köpfen, und die Sonnenblumen standen schwer und träge da. Ein Erntetag, dachte Judith. Ein Tag, an dem man bereits den Herbst erahnte.
Sie sprang auf. Nun gut. Wenn Mutter nicht da war, so würde eben Hubert der Erste sein, dem sie die frohe Botschaft brachte. Sie lief, zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, zurück in ihre Wohnung, schenkte sich abermals Sekt nach und leerte das Glas in einem Zug. »Prost, Mutter Judith«, sagte sie feierlich. Dann lachte sie übermütig. War wirklich gut, dieser Sekt. Für welche Gelegenheit er wohl gedacht war? Für Huberts Heiratsantrag, den die ganze Familie bereits seit fünf Jahren, mit angehaltenem Atem, sozusagen, erwartete und mit dem er sich zierte wie ein reicher Erbonkel mit seinem Hinscheiden? Tja. Sie war eben lange Zeit geprüft und immer noch nicht für gut befunden worden. Die Frage war nur: Wollte sie Hubert überhaupt heiraten? Eigentlich bezeichnend, dass dies nie zur Debatte gestanden hatte. Man war der Ansicht, es sei für sie, Judith Uhland, eine außerordentliche Ehre, Herrn Regierungsrat Ellert zu ehelichen, obwohl sie doch eine so mittelmäßige Person war. Eine mittelmäßige Person … War sie das wirklich?
Sie seufzte und griff zum Telefon.
»Hallo, Hubert. Die liebe Judith ist am Apparat. Wie geht’s?« Während sie sprach, betrachtete sie sich im Garderobenspiegel. Ihr schmales Gesicht war freudig gerötet, und ihre Augen, die wie graues Rauchglas wirkten und von einem Kranz dichter schwarzer Wimpern umgeben waren, strahlten. »Judith? Was ist los? Du klingst so aufgeregt.«
»Bin ich auch. Ich bin so kribbelig wie ein Haufen Ameisen. Ich habe nämlich Nachricht bekommen.«
»Nachricht von wem und Nachricht worüber?«
Judith blickte abermals in den Spiegel und schnitt eine Grimasse. Typisch, dachte sie. Typisch Hubert. Sprach immer, als diktiere er einen langweiligen Schriftsatz: »… und bitten wir Sie umgehend um Nachricht, von wem diesbezügliche Nachricht nachrichtlich zu benachrichtigen sei …«
»Hubert! Was interessiert mich zurzeit wohl am meisten? Und wofür habe ich am meisten gekämpft? Mit all meinen Anträgen
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