Die Albertis: Roman (German Edition)
Kleine Päckchen für die Kinder. Fotos. Und dann das Telegramm der Botschaft: »Mit großem Bedauern … ein Unfall.«
Was weiter kam, war wie ein Alptraum. Die Beerdigung. Die vielen Menschen auf dem Friedhof. Die Behördengänge. Das Jugendamt. Die Kinder, wie erstarrt die erste Zeit. Oliver schreckte nachts weinend auf, erzählte, er träume von seinem Vater; wie er versucht habe, Mutter zu retten und wie beide ertranken.
Doch die Träume wurden seltener. Steffi, für ihre dreizehn Jahre noch ziemlich klein, ging wieder auf Sport- und Kinderfeste, Claudia besuchte einen Malkurs, und Oliver, gerade acht geworden, züchtete Goldhamster und las in seinen Abenteuerbüchern. Er erzählte nichts mehr von seinen Träumen, und er weinte auch nicht mehr.
»In einer halben Stunde gibt es Abendbrot«, sagte Anna.
»Buchstaben?«
»Nein. Sauerbraten.«
»Hoffentlich nicht so verstaubt wie die Buchstaben«, antwortete Steffi und biss in einen Apfel.
In München stand Judith unterdessen vor dem Kleiderschrank und musterte ihre Garderobe. Was trug eine fortschrittliche Mutter eigentlich? Ihr fiel auf, dass sie nur Faltenröcke besaß. Bürokleidung, wie Lilli des Öfteren ironisch bemerkte. »Blaues Röckchen, weißes Blüschen, flache Absätze«, pflegte sie zu spotten. »Man würde dich erst gar nicht grüßen, hättest du mal was anderes an.«
Judith duschte, zog sich an, bürstete ihr Haar und betrachtete sich. Sehr, sehr brav stand sie vor dem großen Flurspiegel, mit biederem Haarschnitt, feinem, etwas fadem Gesicht, in dem nur ihre Augen auffielen und in dem die dunklen Augenbrauen viel zu breit und unregelmäßig gewachsen waren. Ihre Figur war nicht schlecht, gut proportioniert, wenn auch zäh erkämpft, und ihre Beine waren lang, mit schmalen Fesseln und kräftigen Waden. Eigentlich wirkte sie genau so, wie Hubert sich eine nette Ehefrau vorstellte, etwas Wetterfestes, Dauerhaftes, ein praktischer Trenchcoat sozusagen. Ein pfiffiger Verkäufer würde glatt vierzig Jahre Garantie auf sie geben und dabei gar nicht falsch liegen. Sie begann sich zu ärgern. Wer wollte schon gerne ein Trenchcoat sein … Kurz entschlossen kramte sie Lippenstift und Schminke aus den tiefsten Tiefen ihres Badezimmerschränkchens und malte sich einen großen roten Mund und herrlich sündige Augen. Dann zog sie ihr Haar tiefer in die Stirn, bestäubte sich mit Parfüm und verwischte etwas Rouge auf den Wangen. Der Trenchcoat soll wenigstens ein farbiges Revers erhalten, dachte sie aufsässig und puderte sich noch die Nase.
Lilli hatte noch keine Ahnung, wie sehr sich durch jenen verhängnisvollen Brief auch ihr Leben verändern würde. Sie spazierte mit Freundin Beatrice durch den Hofgarten, verfütterte ein paar Kekse an die Tauben vor der Feldherrnhalle und errötete sanft, als ein gut aussehender, älterer Herr ihr einen aufmerksamen Blick schenkte und sanft lächelte. Lilli war klein, schmal; ihre rotblonden Locken, die sie, wie in jungen Jahren, schulterlang trug, verliehen ihr etwas Mädchenhaftes. Ihr Gesicht war zart gezeichnet und immer noch schön, trotz der kleinen Fältchen, die die Haut durchzogen und den eisblauen Augen, die nicht mehr so leuchteten wie früher.
»Wie geht es Judith?«, fragte Beatrice, mäßig interessiert.
Lilli lachte. »Wie soll es ihr schon gehen? Sie wandelt Tag für Tag in ihr verstaubtes Amt, kommt am frühen Nachmittag nach Hause, arbeitet im Garten, bereitet ein kleines Abendbrot für sich und Hubert, sieht fern und ist so langweilig wie eh und je.«
»Glaubst du, sie heiratet Hubert?«
Lilli hob die Augenbrauen. »Du stellst die Frage verkehrt herum. Doch egal. Ich würde ihn jedenfalls nicht heiraten, er ist eine alte Jungfer in Hosen. Doch was bleibt ihr übrig?«
»Du meinst, sie hat nicht allzu viele Chancen?«
»Allzu viele? Ich kenne keine außer Hubert. Sie hatte mal eine große Liebe, doch die ging nach Australien. Das war vor fünfzehn Jahren. Und dann gab es noch ein paar Interessenten aus der Nachbarschaft. Aber das waren Witwer oder Geschiedene, die wohl eher eine gute Haushälterin suchten. Und einmal hätte sie sich beinahe verlobt. Mit einem österreichischen Skilehrer. Torschlusspanik! Zugegeben, ein bildschönes Mannsbild und wohl gut geeignet für ein bisschen erotischen Nachholbedarf. Wir haben ihr diesen Mann ausgeredet, und sie brach ihren Urlaub ab und kam nach Hause.«
»Erotische Anwandlungen hätte ich ihr gar nicht zugetraut.«
»Na ja. Diese Geschichte
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