Die Albertis: Roman (German Edition)
scheint wohl auch ihr gesamtes Temperament erschöpft zu haben. Von da an lebte sie wie eine Nonne. Als sie Hubert kennenlernte, war sie bereits Mitte dreißig und ganz schrecklich anständig und brav.«
»Sonderbar, wie unterschiedlich Schwestern doch sein können. Wenn ich da an Margareth denke …«
Lilli schwieg. Sie dachte oft an Margareth, die ihre zierliche Figur, ihr rotes Haar und ihre charmante Fröhlichkeit besessen hatte und die, bevor sie Philip heiratete, umschwärmt worden war wie ein Starlet.
»Judith gleicht da mehr meinem verstorbenen Mann«, sagte sie nachdenklich. »Treu wie Gold und störrisch wie ein Maulesel. Denn sonderbarerweise – so unsicher und schüchtern sie im Alltag auch scheint – so eigensinnig und zielbewusst kann sie sein, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat.«
»Du denkst wohl an den Antrag auf Pflegschaft für Margareths Kinder?«
»Ja, genau. Sicher, ich liebe meine Enkel«, sagte Lilli hastig. »Aber weder Judith noch ich sind drei Kindern gewachsen. Ich eigne mich nun mal nicht zur Großmutter. Und Judith als Mutter …« Sie schüttelte den Kopf.
»Aber die Kinder in ein Heim zu stecken, wäre auch grausam.«
»Kein Mensch hätte sie in ein Heim gesteckt. Verschiedene Verwandte hätten geholfen. Nur alle drei Racker auf einmal, das wollte sich natürlich keiner antun. Ich kann nur hoffen, dass Judiths Antrag abgelehnt wird.« Lilli blickte sich um. Der nette Graumelierte stand vor einem Schaufenster mit Miederwaren und sah nicht so aus, als wüsste er genau, was er sich da so aufmerksam beguckte.
»Gehen wir ins ›Glockenspiel‹, einen Kaffee trinken?«, fragte sie so laut, dass Beatrice zusammenzuckte. Und als sie bemerkte, dass die grauen Schläfen sich wieder an ihre Fersen hefteten, hängte sie sich bei Beatrice ein und warf fröhlich ihren Kopf zurück.
»Du bist ja geschminkt«, stellte Hubert missbilligend fest, als Judith und er sich beim Essen gegenübersaßen.
»Na und?«
»Ich wusste gar nicht, dass dreifache Mutterfreuden zu einer Farborgie anregen.«
»Und ich wusste nicht, dass so ein bisschen Lippenstift und Rouge gleich eine Orgie sein sollen.«
»Ohne Farbe gefällst du mir jedenfalls besser«, meinte Hubert und griff nach der Speisekarte.
Judith ärgerte sich. Gott, ist der langweilig, dachte sie. Wie streng sein Gesicht aussah, wie aufrecht er dasaß; er hatte etwas Englisches an sich, etwas Distinguiertes; er sprach, als sei ihm manchmal die Zunge im Weg. Wie viele Männer kleiner Statur hielt er sich gerade und trug den Kopf leicht erhoben. Die Kellner flitzten, wenn er einen Wunsch äußerte, und in der Straßenbahn wagte keiner, ihn anzurempeln. Bei Judith flitzten die Kellner nicht, und angerempelt wurde sie oft.
»Prost«, sagte sie und lächelte mühsam. »Freu dich doch mit mir. Schließlich sind wir nicht auf einer Beerdigung.«
»Wann kommen die Kinder?«
»In zwei Wochen. Mein Gott, was ich noch alles erledigen muss … Glaubst du, es wird möglich sein, eine Woche vorher Urlaub zu bekommen?«
»Jetzt? Zur Hauptreisezeit?«
»Wenn du dich dafür verwenden würdest? Schließlich bist du mein Vorgesetzter?«
»Und wenn ich mich nicht verwende?«
»Dann werde ich krank«, antwortete Judith eisig. »Ich bekomme Bauchschmerzen, Wehen und eine dreifache Sturzgeburt. Wer kann schon arbeiten als Wöchnerin.«
»Judith. Sei doch nicht kindisch. Natürlich kannst du Urlaub bekommen. Aber sonst … Ich glaube, du bist dir immer noch nicht bewusst, was du dir alles aufhalst. Es hätte auch elegantere Lösungen gegeben. Ein Internat für Stephanie, eine Sprachenschule mit Wohnmöglichkeit für Claudia und später dann vielleicht ein Studium mit Unterbringung in einem Studentenheim. Und Oliver … nun ja. Auch hier wäre uns etwas eingefallen.«
»Die Geschwister auseinanderreißen? Nachdem sie vorher schon beide Eltern verloren haben? Wie grausam du bist.«
Hubert spielte mit seiner Serviette. »Ich bin nicht grausam«, sagte er nach einer Weile. »Nur enttäuscht. Ich liebe dein kleines Häuschen, und dann meine Pläne. Wie angenehm hätten wir beide zusammenleben können. Im Erdgeschoß das Wohnzimmer, das ich ein wenig umgebaut hätte, im ersten Stock die beiden kleinen Zimmer als Gästeraum und Bibliothek …«
»Vergiss das Schlafzimmer nicht.«
»Das Schlafzimmer kann bleiben, wie es ist.« Er räusperte sich.
»Ja. Wie gesagt. Schön hätten wir uns das Leben machen können. Ein nettes Heim, unsere Reisen nach
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