Die Albertis: Roman (German Edition)
ist, Mama?»
«Deine Mutter überlegt, ob sie lieber Champagner oder Roten trinken soll!», erklärte Paul und goss ihr Wein ein.
«Danke.»
Wolf kam an den Tisch, nahm sein Glas und hob es: «Auf die Freundschaft!», sagte er ungewöhnlich überschwänglich. «Es ist wie immer klasse bei euch!»
Alle stießen an und tranken.
Über den Rand des Glases beobachtete Anne ihren – was war er jetzt, ein Liebhaber? Er ließ sich nichts anmerken, schien ihren Blick zu meiden, plauderte mit seinem Freund, sprach mit seiner Frau, scherzte mit den Kindern. Alles war wie immer. Die Abendsonne färbte sich orangerot, versank hinter den mächtigen Kastanien, eine Amsel sang auf dem Dachfirst, von Ferne hörte man die Eisenbahn, die es eilig hatte, in die Stadt zu kommen. Eine Kirchturmuhr schlug neun. Es begann sich abzukühlen. Sybille holte zwei ihrer Pashmina-Schals, um die Anne sie so beneidete, und gab ihr einen, den sauerkirschfarbenen, und legte sich selbst den sandfarbenen über die Schultern. Paul machte eine weitere Flasche Wein auf. Die Kinder setzten sich drinnen vor den Fernseher. Die Freunde betranken sich.
«Ich muss noch fahren!», erklärte Wolf und leerte sein Glas. «Oder?» Er sah seine Frau an. Sie hatten sich unausgesprochen ein Ritual angeeignet, das sie jedes Mal wieder durchbrachen: Anne fuhr stets die Strecke hinaus, weil sie es liebte, sich an solchen Abenden zu betrinken. Er versprach, zurückzufahren – und überließ es dann meistens doch ihr, sich ans Steuer zu setzen. Oft, wenn Edward mitkam, übernahm er es, die Familie zurückzukutschieren. Dann saß sein Vater neben ihm, ein qualmende Gauloise zwischen den Lippen, und schlief schon nach wenigen hundert Metern ein. Anne musste sich hinten mit den anderen Jungs drängeln, die sich über sie hinweg stritten und schlugen, und fast immer, wenn sie vor ihrem Mietshaus einparkten, gab es Krach und Ärger.
Und auch dieses Mal war es nicht anders. Als sie sich endlich um kurz nach elf vor dem Haus versammelten, um zu fahren, war Wolf betrunken und bat seine Frau, sich hinters Steuer zu setzen. Luis war müde und schlecht gelaunt und frech zu seiner Mutter. Als sein Vater ihm eine Ohrfeige androhte, fing er an zu weinen. Pavel stand noch ein ganze Weile im Hauseingang zusammen mit Anuschka und diskutierte mit ihr über sein Lieblingsthema Autos, die sie verachtete und als überflüssig bezeichnete. Laura lag längst im Bett. Anne dankte Sybille für ihre Gastfreundschaft. Paul kam aus dem Haus und brachte Anne ihre Basttasche, die sie in der Küche vergessen hatte. Luis musste noch einmal pinkeln. Es war ein Durcheinander, ein Hin und Her, ein Palavern und Gelächter und Gestreite, so, als müsse jeder von ihnen kurz vor der Abreise noch ein Zeichen setzen, um den anderen in Erinnerung zu bleiben, und es breitete sich, so empfand Anne es, bei allen ein wunderbares Gefühl von Geborgenheit und Freude aus.
Wolf fragte Paul, ob er am Mittwoch wiederkommen dürfe, zum Zeichnen. Dabei sagte er etwas, das Anne überraschte und für ein paar Sekunden aufhorchen ließ. «Wir reden zu viel», erklärte er, «wir sollten mehr zeichnen.»
«Tja, wenn man so zeichnen kann wie du ...», erwiderte sein Freund.
Wolf ging darauf gar nicht ein. Er machte eine weit ausholende Bewegung. «Die Natur ... der Retter der Menschheit ...»
«Papa!» Pavel, der seine Diskussion beendet hatte, öffnete die vordere Beifahrertür und versuchte, seinen Vater auf den Beifahrersitz zu drücken.
«Die Natur ...», wiederholte Wolf, «ist voller Zeichen!» Mit diesen Worten verschwand er im Auto.
Pavel rollte mit den Augen. «Schnall dich an!», befahl er und knallte die Tür zu.
Anne zuckte mit den Schultern. «Mein Mann!» Sie schmunzelte den Freunden zu.
«Ja, dein Mann!» Paul nickte.
Sybille zitterte ein wenig. «Nehmt es mir nicht übel. Ich geh wieder rein. Mir ist es zu kalt. Tschüs ... bis bald.» Sie ging. Luis kam ihr entgegengerast. «Tschüs, du kleiner Teufel!», rief sie ihm nach, ehe auch er auf der Rückbank verschwand, und zog ihre Tochter mit ins Haus.
Paul und Anne blieben voreinander stehen.
Sie reichte ihm die Hand. «Tja
«Tja ...»
«Danke, Paul.»
Flüchtig hauchte er ihr einen Kuss auf die Wange: «Fahr vorsichtig.»
«Mach ich.»
«Mama!» Luis kurbelte das Fenster herunter. «Ich hab morgen in der ersten eine Mathearbeit!»
Sie wollte nicht einsteigen. Sie wollte bleiben. Sie wollte noch ein Signal von Paul empfangen. Einen Satz, eine
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