Die Albertis: Roman (German Edition)
Geste, eine Erklärung, ein «Ich-ruf-dich-an», «Wann-sehen-wir-uns-wieder?» Sie wusste, das ging nicht, und tatsächlich: Er sagte nichts. Ihr war in diesem Moment, als sei sie ausgenutzt, ja, fast missbraucht worden. Sie fühlte sich wie jemand, der einen großen, unverzeihlichen Fehler begangen hat.
«Dann will ich mal.» Keine Antwort. «Dann also nochmal: tschüs, Paul!» Kein Wort. «Haben wir alles?» Sie sah sich um, als würden auf dem Gehweg oder im Vorgarten noch Sachen herumliegen.
Er machte die Fahrertür auf. Sie stieg ein. Schnallte sich an. Pavel trat gegen ihre Sitzlehne. «Du zerschmetterst meine Knie! Rutsch vor, Mama!»
Sie zog den Hebel hoch und machte einen kurzen Ruck in Richtung Lenkrad. Sie steckte den Schlüssel ins Zündschloss, drehte ihn herum, der Motor sprang an. Anne schaltete das Licht ein, bog sich den Rückspiegel zurecht. Dann guckte sie zu Paul hoch. Er verzog keine Miene. Wolf machte sich eine Zigarette an, drehte das Radio auf.
«Lover, lover, lover, come back to me ...», sang Leonhard Cohen.
In diesem Augenblick schlug Paul die Wagentür zu. Anne erschrak fast. Dann gab sie Gas und fuhr davon. Im Spiegel sah sie ihn neben der Gartenpforte stehen, ruhig, unbewegt, bis sie endlich in die Kurve einbog und er verschwunden war.
Mit lautem Getöse, das der Familie Alberti eigen war und für das sie von vielen Mietern im Haus gehasst wurden, stürmten sie eine halbe Stunde später durch das Treppenhaus hinauf bis zu ihrer Wohnung. Luis schloss wie immer die Tür auf. Sein Bruder drängelte sich an ihm vorbei in den Flur. Danach kam Wolf, der die ganze Fahrt über kein Wort gesagt hatte und auch jetzt stumm eintrat. Anne bildete das Schlusslicht. Sie schleppte ihre Tasche, ihre Jacke und ein paar Klamotten ihrer Söhne, die hinten im Kofferraum noch herumgelegen hatten. Ihr taten die Füße weh. Sie war erschöpft und bedrückt. Doch sie hatte nicht einmal eine Sekunde Zeit, darüber nachzudenken, denn als sie in die Wohnung kam, traf sie fast der Schlag: Alle Räume waren hell erleuchtet, laute Musik dröhnte überall, es stank nach Rauch und nach Alkohol, die Türen, die vom Flur zu den Zimmern abgingen, waren sperrangelweit geöffnet, und überall standen junge Leute herum, die lachten und quatschten, tanzten, sich knutschten, herumalberten. Mädchen in pastellfarbenen Kleidchen, in Röhrenhosen, mit perlenbestickten Tops und knallkurzen Röcken, mit hochhackigen Sandaletten und Gucci -Slippern; Jungs in blauen Blazern und adretten Sommerflanellhosen, mit grünen Jeans und Blazern, auf denen College-Embleme prangten, mit Angelhüten, deren breite Krampen sie sich tief ins Gesicht gezogen hatten, Ringelpullundern, fett bedruckten Sweatshirts und weichen Stoffhosen in Übergrößen, die aussahen, als würden sie ihnen herabrutschen. Aschenbecher auf dem Boden, leere Flaschen, volle Weingläser; mittendrin Edward, der ein blondes Mädchen leidenschaftlich küsste.
«Eine Party!», schrie Luis. «Geil!»
Pavel umarmte einen jungen Mann, den er gut zu kennen schien. Wolf lehnte sich gegen die Wand. Genau wie Anne glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Sie knallte die Haustür mit dem Fuß zu, ließ alles fallen und stürmte auf ihren Sohn zu.
«Entschuldigung!», sagte sie und tippte dem Mädchen, das ihren Sohn in den Fängen hatte, auf die Schulter. Sie ließ von Edward ab und sah sich erstaunt um.
Edward wischte sich über den Mund: «Ihr seid schon zurück?»
«Nee!», antwortete seine Mutter. «Sind wir nicht. Siehste ja.»
«Sorry!» Er wollte seine Mutter mit einem Kuss begrüßen.
Sie drückte ihn weg. «Kannst du mir mal erklären ...»
«War so nicht geplant. Die sind einfach ... einer nach dem andern ... so gekommen, tut mir Leid.»
Anne war aufgebracht. «Also, ich finde, Edward ... das geht nicht.» Sie sah sich um. «Das geht einfach nicht. Du kannst hier nicht, ohne das mit uns abzustimmen, eine Fete machen. Sonntagnacht.»
«Och, Mama. Nun stell dich nicht so an!» Er knipste seinen ganzen Charme an. Und er war ein verdammt charmanter Junge. «Das ist übrigens Colleen. Sie war in meiner Klasse.»
«Hi! ...», sagte Colleen.
«Hi ...», sagte Anne.
Ein Handy klingelte. Es gehörte einem Mädchen, das in einer Gruppe quatschend neben Colleen stand und um seine hochtoupierten, flachsblonden Haare ein Frotteestirnband gelegt hatte. Sie trug ein rosa Etuikleid. Ihre Haut war zart gebräunt. Wahrscheinlich hat sie drei Sommerwochen St. Tropez hinter
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