Die Albertis: Roman (German Edition)
das Schnapsglas in einem Zug. Durch Pauls Kopf ratterten die Gedanken. Mist, dachte er, verdammt, verdammt, verdammt, das musste ja so kommen. Was tue ich jetzt? Er ist mein Freund, das arme Schwein, und ich bin so ein ... ein: Arschloch! Man müsste mich verbieten, einsperren, erschlagen. Ich mache Schluss mit ihr, es muss zu Ende sein, wir können das so nicht durchziehen, wie wir es besprochen haben.
«Sie hat sich völlig verändert in den letzten Monaten, ist kaum noch zu Hause, kümmert sich um nichts mehr. Sie sieht irgendwie anders aus, hat sich andere Gewohnheiten zugelegt. Isst andere Sachen. Trinkt neuerdings immer: Zitronenlikör. Zuckersüßes Zeug, das sie früher nie angerührt hätte. Limoncello!», sagte er verächtlich, und dann fügte er kleinlaut hinzu: «Es ist mehr als ein Gefühl! Genau genommen bin ich mir ziemlich sicher.»
Ein Pakistani mit einem Strauß Rosen betrat die Kneipe und bot in gebrochenem Deutsch seine Ware feil. Eine dekolletierte Frau mit tiefen Einblicken und hohen Absätzen, die am Ende des Tresens Sekt trank, kaufte zehn Stück und schenkte sie Vera. Vera war gerührt und gab einen aus.
Ich habe Schuld auf mich geladen, Schuld, die ich nie wieder in meinem Leben werde abtragen können, dachte Paul, ist es das wert, dass ich meinen Freund hintergehe und meine Frau betrüge und meine Kinder quälen werde, nur für Anne, für Anne und mich? Aber ich liebe sie doch, ich kann nicht anders. Er war in diesem Moment tief verzweifelt.
«Warum sagst du nichts?», fragte Wolf und sah ihn ärgerlich von der Seite an. Paul schien es, als würde er nicht mehr deutlich sprechen können.
«Ich höre dir zu, Alter, ich höre dir zu.»
«Und sag nicht dauernd Alter zu mir! Ich heiße Wolf.»
Paul legte ihm die Hand auf die Schulter, aber sein Freund schüttelte sie ab. «Was bist du denn jetzt so sauer, Wolf?» Wolf starrte vor sich hin. «Ich sitze hier doch nur und höre dir zu.»
Langsam drehte Wolf den Kopf zu Seite. Zu seinem Entsetzen sah Paul, dass sein Freund Tränen in den Augen hatte. Tränen: Seit zwanzig Jahren hatte er ihn nicht mehr weinen sehen, und sein Impuls war, ihn augenblicklich in den Arm zu nehmen. Doch er tat es nicht. Er konnte es nicht.
Seine Tränen lagen schwer auf seinen langen Wimpern, lösten sich langsam wie Glyzerin und liefen ihm über die Wangen. Wolf wünschte sich, Paul würde ihn in den Arm nehmen. In den Arm nehmen, wie ein Vater. Ein bisschen war das ja auch so, war es immer so gewesen: Paul hatte ihm den Vater ersetzt, den Vater, und ein wenig auch die Mutter, seit seine Eltern, als er eben sechzehn geworden war, bei einem Autounfall tödlich verunglückt waren. Paul war seine Familie gewesen, bis er eine eigene gegründet hatte. Wie wunderbar hatte er ihm damals beiseite gestanden. Wie liebevoll hatte er ihn zu sich nach Hause geholt und ihm gesagt: Für meine Eltern bist du jetzt wie ein zweiter Sohn. Ich leih dir meinen Vater, wenn du ihn brauchst. Deshalb auch war er nach ihrem großen Amerika-Krach wieder zu Paul gekommen, damals, ans Grab. Und er hatte um Pauls Vater getrauert wie um seinen eigenen.
Wolf war angetrunken. Er hatte seine Hemmungen abgelegt. Er tat sich Leid. Ich will doch für die anderen immer nur das Beste, ich will doch, dass meine Familie glücklich ist, dafür schufte ich, dafür lebe ich, Anne ist doch das Glück meines Lebens, warum tut sie mir nur so weh?
Er schniefte. Er holte sein groß kariertes Taschentuch aus der Hose, schnäuzte sich und wischte sich die Tränen ab.
«Scheiße!», murmelte er.
Paul kam vom Barhocker herunter. «Ich gehe pinkeln!», erklärte er und verschwand.
Auf der Toilette lehnte er sich gegen die Wand und überlegte, wie er mit der Situation umgehen sollte. Er entschied sich, Anne anzurufen, und fasste in seine Hosentasche, aber das Handy war nicht da, es steckte in seinem Wintermantel. «Es gibt eben so gebrauchte Tage!», sagte seine Mutter immer. «Am besten man vergisst die sofort wieder.» Dies war ein gebrauchter Tag. Doch er ließ sich nicht vergessen. Und leider war er auch noch nicht zu Ende. Paul kam vom Klo, ging an Wolf vorbei und erklärte ihm, er müsse noch mal telefonieren. Er nahm sein Handy und verließ das Lokal. Auf der Straße wehte ein eisiger Wind. Türkische Kinder zündeten auf der gegenüber liegenden Seite Chinaböller an, warfen sie in Hauseingänge und rannten davon, als das Geknalle losging. Hektisch wählte Paul Annes Nummer. Es war besetzt. Er dachte
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