Die Albertis: Roman (German Edition)
es weiß. Aber es war besetzt, immer noch. Sein erster Impuls war, sofort zur Wohnung der Albertis zu fahren, um Anne zu beschützen und Wolf zu besänftigen. Aber die kalte Luft klärte seine Gedanken. Er bemerkte, dass etwas mit seiner linken Hand nicht stimmte.
Vorsichtig drehte er sie nach links und nach rechts. Sie schmerzte. Ihm fiel ein, dass Sybille allein in der Praxis saß, vor dem Computer, und vermutlich auf ihn wartete. Der Tag der Abrechnung, dachte er bitter, in jeder Hinsicht. Er entschied sich, nach Hause zu fahren. Ich habe eine Verantwortung gegenüber Sybille, dachte er. Sie muss erfahren, was passiert ist. Er machte sich auf den Weg zu seinem Auto.
Nichts ahnend saß Sybille derweil im Empfangsraum der Praxis vor dem leise summenden Computer und fluchte. Eine italienische Schreibtischleuchte spendete Licht, ansonsten war der Raum dunkel. In der Ecke, auf dem Barock-Ohrensessel, der einst ihrem Vater gehört hatte und den besonders die alten Patienten schätzten und zum Verschnaufen nutzten, hatte es sich ihre Freundin Ruth bequem gemacht und betrachtete Sybille liebevoll.
Ruth Johannes war eine eigenwillige Frau. Mit Ende vierzig wirkte sie mindestens zehn Jahre jünger. Sie war klein, keine einssechzig, trug ihre grauen Haare raspelkurz, das blasse pudrige Make-up ließ sie fast ungeschminkt aussehen. Nur die Fältchen um ihre schmalen, fast asiatisch wirkenden Augen und die wenigen Altersflecken auf ihren zarten, feingliedrigen Händen deuteten an, dass auch an ihr die Jahre nicht spurlos vorübergegangen waren. Sie trug einen langen grauen Filzrock und eine schmale weiße Stehkragenbluse. An ihren Handgelenken klimperten marokkanische Silberarmbänder und balinesische Holzreifen. Ihre Füße steckten in flachen schwarzen Stoffschuhen, die Hausschuhen nicht unähnlich waren. Für Sybille hatte sie etwas von einer japanischen Teepuppe: Sie war freundlich und ruhig, wurde nie laut oder hektisch, bewegte sich vorsichtig und mit Bedacht, und man hatte den Eindruck, sie würde ständig lächeln. Wenn sie ging, machte sie kleine Schritte, ihr ganzes Wesen strahlte eine angeborene Vornehmheit und Gelassenheit aus und ein antrainiertes Harmoniestreben.
Sie war Möbelrestauratorin und beherrschte ihr Handwerk so gut, dass sie weit über Ahrensburg hinaus dafür bekannt war. Ihre Werkstatt hatte sie in einem ehemaligen Schuppen eingerichtet, der, liebevoll ausgebaut, hinter ihrem schönen, alten Rosengarten lag. Ihr reetgedecktes Häuschen war einst eine Kate gewesen und lag hinter dem Ahrensburger Schloss, an einer Kopfsteinpflastergasse, romantisch, gemütlich, einsam. Außer ihrer Arbeit liebte Ruth die Musik und die Literatur und war Vorsitzende eines von ihr selbst gegründeten Kulturkreises, dem nur Frauen angehörten. Im Grunde aber lebte sie sehr zurückgezogen mit ihrem alten, blinden Golden Retriever, drei Pferden und vier Katzen, und nur selten empfing sie Besucher. Ihr Reich war ein Idyll und eine Oase, in dem sich nicht nur Sybille gerne aufhielt, sondern vor allem ihre Töchter Anuschka und Laura. Sie durften die Pferde reiten und füttern und striegeln, mit den Katzen spielen, die Rosen pflücken, Ruth bei der Arbeit zusehen, ja, sie durften eigentlich alles bei ihr, denn Ruth mochte die Mädchen. Sie hatte keine Kinder und war nie verheiratet gewesen – um genau zu sein: Männer konnte sie nicht ausstehen. Sie liebte Frauen. Vor allem Sybille. Aus ihrer gegenseitigen Sympathie – sie hatten sich bei einer Autorenlesung in einer Buchhandlung kennen gelernt – war im Laufe der Jahre eine Freundschaft geworden, eine Art von Liebe, deren Erotik in tiefem Vertrauen lag, in jener vollkommenen Abwesenheit von Fremdheit, wie sie nur Menschen haben können, die ein Geheimnis miteinander teilen. Niemand außer Sybille wusste, dass Ruth lesbisch war. Sie sprach nicht darüber. Und ihre Art verbot es einfach, dass man darüber spekulierte und munkelte, warum es keinen Mann an ihrer Seite gab. Sie war eine Singlefrau, die so lebte, wie es ihr passte, ohne dass sie sich das Wort Emanzipation auf die Fahnen geschrieben hätte. Alles in ihrem Wesen schien perfekt zu sein, nur dass zu ihrem vollkommenen Glück Sybille fehlte, eine Sybille, die sie nicht mit Paul teilen musste. Ruth hatte sich gefügt in dieses Schicksal und in diese Situation, sie war die Hausfreundin, die immer dazu gehörte, ohne dass ihr je etwas von dieser Familie gehört hätte.
Sie klagte nie. Sie jammerte nie. Sie forderte
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