Die Albertis: Roman (German Edition)
nie. Mit ihrem starken Willen und ihrer chamäleongleichen Art setzte sie Zeichen, begeisterte, nahm für sich ein. Der alljährliche Urlaub auf Sylt mit Sybille und ihren Töchtern war ihre Idee gewesen, ebenso der Umstand, dass mal Sybille und mal Anuschka und Laura bei ihr über das Wochenende blieben; jede freie Minute verbrachte sie im Haus der Familie Ross, teilte deren Freuden und Sorgen, als wären es die ihren.
Alle zwei Jahre schloss sie ihre Werkstatt und reiste für einen Monat nach Asien. Sie war in Japan gewesen, in Indonesien, in Vietnam und Kambodscha, in Thailand und in Tibet. Von überallher schickte sie regelmäßig lange Briefe an Sybille, in denen sie mit klitzekleiner Schrift, als drohe ihr das Papier auszugehen, ausführlich ihre Erlebnisse schilderte. Sie brachte Sachen mit, von denen es im Haus der Freunde nur so wimmelte: Seidenschirme, Schattenspiel-Puppen, chinesische Vasen, Schalen aus Kokosnussholz, Schachteln mit handbedruckter Seide, seltene Muscheln und besondere Steine, die sie an fernen Stränden gesammelt hatte, Pashmina-Schals, von denen Sybille nie genug kriegen konnte. Auch der dreihundert Jahre alte Ring, den Sybille ständig trug, eine kostbare javanische Handarbeit, war ein Geschenk von Ruth.
«Ich werde es nie lernen!», jammerte Sybille und drückte hilflos einige Tasten auf der Tastatur.
«Du bist ja auch keine Sprechstundenhilfe!», antwortete Ruth. «Ihr habt doch Juliane. Ich verstehe nicht, warum Paul von dir verlangt, dass du ihm bei den Abrechnungen hilfst.»
«Na, er findet, ich würde mich hier um nichts kümmern und nur die verwöhnte Arztgattin spielen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen ...»
«Und du glaubst, er hat Recht?»
«Hast du mal auf die Uhr geguckt? Ich meine: auch auf das Datum? Übermorgen ist das Jahr zu Ende, liebste Ruth. Und Juliane klappt abends um sieben ihren Karteikasten zu: und Feierabend! Eine kleine Angestellte interessiert sich doch nicht dafür, ob das Quartal abgeschlossen werden muss ...»
«Dafür verdient sie auch nicht genug!», entgegnete Ruth.
Die Tür zum Wohnhaus wurde geöffnet. Frau Merk erschien. Sie hatte noch immer ihre Kittelschürze an und wirkte müde.
«Brauchen Sie mich noch, Frau Ross?», fragte sie höflich. «Aber nein, Frau Merk. Gehen Sie zu Bett. Schlafen die Mädchen?»
Frau Merk bejahte die Frage.
«Dann gute Nacht auch für Sie!»
Die Haushälterin nickte Ruth zu und lächelte Sybille dankbar an. Nie würde sie vergessen, was die Frau des Doktors für sie getan hatte. In der größten Krise ihres Lebens hatte Sybille sie zu sich geholt, ihr diese Arbeit gegeben und damit ein neues Zuhause, auch wenn es nur ein Zimmer im Keller war.
«Frühstück wie immer?»
«Frühstück wie immer!» Sybille winkte Frau Merk nach. Die Tür wurde geschlossen, Ruth und sie waren wieder allein.
«Was machst du eigentlich Silvester?» Sybille erhob sich von dem Drehstuhl. Sie trug einen Kaschmirpullover über ihren Jeans, ihre Füße waren nackt. Sie liebte es, den Boden zu spüren und ihr war nie kalt.
«Ich bin bei meinen Tieren, wo sonst. Du weißt doch, dass Bebe Angst vor Feuerwerk hat. Ich lass sie doch nicht allein. Werde vor dem Kamin sitzen, was trinken, Bebe und die Katzen zu meinen Füßen ...»
«Und die Pferde stecken ihre Köpfe durchs Küchenfenster rein und wiehern: Prost Neujahr.»
«So ähnlich.»
Sybille stand auf, ging zum Eingang und drehte das Schild an der Tür um: Praxis geschlossen.
«Warum willst du immer Trübsal blasen? Verstehe ich nicht!»
Ruth schaute zu ihr hinüber. «Ich blase keine Trübsal. Ich fühle mich sehr wohl allein.»
«Warum kommst du nicht mit zu den Albertis, du weißt, wie gemütlich es dort ist. Ich kann Anne morgen früh anrufen und sie fragen, und die haben garantiert nichts dagegen, wenn du dabei bist.» Sie kam zu Ruth, kniete sich hin und legte ihre Arme auf deren Knie. «Im Gegenteil. Und ich fände es auch schön.»
Sie sahen sich an. Ruth schüttelte den Kopf.
«Ach, Ruth», seufzte Sybille. «Manchmal ist mir so kariert zumute.» Sie legte den Kopf auf ihre Arme, und Ruth berührte ganz leicht das Haar ihrer Freundin.
Mit den Fingerkuppen strich Sybille über den Stoff von Ruths Rock. «Wie du so was tragen kannst! Der kratzt doch. So dicker Flanell, scheußlich.»
«Das ist kein Flanell», erklärte Ruth sanft «Das ist Filz.» Sybille lachte auf. «Na, danke bestens. So was hatten wir früher vor der Haustür im Winter.»
Ruth
Weitere Kostenlose Bücher