Die Albertis: Roman (German Edition)
Schwartau, in einer Fabrik, die Lebensmittel produzierte und für ihre Marmeladen berühmt war.
«Schlichte Leute», pflegte Sybille manchmal zu sagen, wenn das Gespräch auf Stivi und seine Familie kam, in einer Mischung aus Mitleid und Herabwürdigung im Ausdruck, die Menschen zu Eigen ist, die trotz ihres Wohlstandes und ihrer Bildung ihre Mitte nicht gefunden haben und sich deshalb arrogant geben. Doch sie hatte nichts gegen den Jungen. Im Gegenteil: Sie verstand, was ihrer Tochter an ihm gefiel, auch sie fand ihn süß und sexy, und sie schätzte seine beherzte, zupackende, unverstellte und gradlinige Art, und sie mochte, wie er mit Anuschka umging. Es beeindruckte sie, was er alles für sie getan hatte, um sie zu gewinnen, und noch tat, um sie zu behalten.
Stivi hatte einen Hang zum Höheren, er strebte an, etwas Besseres zu sein als seine Eltern, so schnell es ging, wollte er da raus, nach Hamburg gehen, studieren, Anwalt werden, jede Menge Geld machen. Nachdem er seine Wette gewonnen und Anuschka ins Bett gekriegt hatte, war etwas Unerwartetes geschehen: er hatte sich in sie verliebt, ja, er war ihr verfallen. Sie konnte ihn gewissermaßen um den Finger wickeln. Und das tat sie auch.
«Stivi», sagte sie, als er endlich am Apparat war, «ich bin obergenervt, die sind tatsächlich eingezogen, jetzt toben die da draußen rum, machen einen Höllenkrach, zum Kotzen, und breiten sich hier aus, ich halte das nicht aus.»
«Bleib cool, reg dich nicht auf. Wir ziehen unser Ding durch, wie besprochen. Wenn wir unser Abi haben, hauen wir ab. Solange wirst du das ja wohl ertragen, oder?»
«Sie stinken, sie sind Scheiße. Ich hasse sie alle, und besonders diese Anne. Sie hat alles kaputtgemacht. Verstehst du?» «Willst du kommen?»
«Kannst du mich holen?»
«Klar. Bin gleich da.»
Sie beendeten das Gespräch. Anuschka stand auf, verließ ihr Zimmer und kam in den Flur, wo ihr ein langhaariger Packer, mit einem Umzugskarton mit der Aufschrift «Obergeschoss Zimmer 2» entgegenkam und sie angrinste. Paul hatte am Vorabend gemeinsam mit Laura DIN-A4-Bogen mit roten Filzstiften beschriftet: Zimmer 1, Zimmer 2, Schlafzimmer, Kammer 1, Kammer 2. Frau Merk hatte die Blätter mit Tesafilm an den jeweiligen Türen festgeklebt, damit die Packer wussten, wohin die Kartons gehörten. Zimmer 1 war Pavels Zimmer, direkt neben dem von Anuschka, Zimmer 2 war Luis' Bleibe, die neben der von Laura lag. In den Kammern wurden solche Dinge verstaut, die nicht sofort benötigt wurden und erst später ausgepackt werden sollten. Die Kartons mit den Sachen von Edward trugen die Aufschrift Dachboden und wanderten nach oben.
«Na, seute Deern?», fragte der schwitzende Packer, der mit Zahnarzt und Friseur offenbar gleichermaßen auf Kriegsfuß zu stehen schien, «schon was vor, heute Abend?»
«Fick dich!», antwortete Anuschka ungerührt, überquerte den Flur und öffnete die Tür zum Badezimmer. Als sie eintrat, sah sie Pavel vor dem Spiegel stehen und sich mit einer elektrischen Zahnbürste die Zähne putzen. Er hatte das Kordhemd ausgezogen, sein Oberkörper war nackt und er trug nur noch seine weiten Jeans, die er mit einem breiten schwarzen Ledergürtel zusamengezurrt hatte. Anuschka registrierte, dass er eine gute Figur hatte.
«Oh, entschuldige, ich wusste nicht ...» Sie wollte wieder gehen und dachte: Das fängt ja gut an. Von nun an wird das Bad ständig besetzt sein, und dass die Albertis die Tür nicht abschließen, das kennt man ja von denen, fürchterlich. Ihr fiel ein, wie ihre Mutter einmal erzählt hatte, wie sie zu Besuch bei den Albertis gewesen war und mitbekommen hatte, wie Wolf aufs Klo ging und Luis und Pavel hinterhertrabten, um mit ihm irgendetwas zu bereden. Solche Züge von Ungeniertheit und Familiennähe gab es bei der Familie Ross nicht, für Anuschka war das schockierend, unästhetisch und unvorstellbar. «Bin gleich fertig. Warte.»
«Ich warte draußen!»
Pavel schaltete die Zahnbürste aus. Spuckte ins Waschbecken und nahm sich ein Gästehandtuch, um sich den Mund abzuwischen.
«In Zukunft schließ bitte ab, wenn du im Bad bist, damit das von Anfang an mal klar ist!», erklärte Anuschka, «Niemand hier im Hause hat Interesse daran, bei deinen Verrichtungen anwesend zu sein.»
«Wie bist du denn drauf?»
«Kannst du dir vorstellen, dass es Leute gibt, die sich nicht so wahnsinnig darüber freuen, dass ihr hier jetzt wohnt?»
Pavel drehte sich um. «Kann ich!», erwiderte er knapp und nahm sein
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