Die Albertis: Roman (German Edition)
mehr. Sie wollte nicht mehr allein denken, was den Familienalltag anging. Sie wollte gemeinsam denken. Doch ehe sie diesen Gedanken vertiefen konnte, kam Luis angebraust und berichtete voller Vergnügen, dass der Gefrierbeutel beim Runterfallen geplatzt und die dicke Maite wie wild im Vorgarten herumgezappelt sei, bis ein Möbelpacker den Goldfisch mit seinen Baumwollhandschuhen gepackt und ins Waschbecken von Frau Merks Küche transportiert habe.
«Ich glaube, ich habe im Keller noch ein altes Aquarium», meinte Paul. «Wir gehen mal runter und gucken nach, was? Vielleicht kannst du ja dann eine richtige Goldfischzucht aufmachen. Und außerdem ...», er zeigte auf den stillgelegten Springbrunnen im Garten, «... könnten wir auch dort wieder Goldfische aussetzen. Was meinst du?» Luis war entzückt. Die erste Freundschaft war geknüpft.
Anuschka war nicht so leicht zu ködern. Sie hatte engen Kontakt mit ihrer Mutter und besuchte sie – nach der Rückkehr aus Indonesien – fast täglich nach der Schule in Ruths Haus oder ging nach dem Reitunterricht bei den beiden Frauen vorbei. Während Sybille gegenüber ihren Töchtern, auf die Situation der Familie angesprochen, mit einer seltsamen Mischung aus Gleichmut und Müdigkeit reagierte, zeigte Ruth allein schon bei dem Namen Paul Kälte und Abwehr. Nachts aber weinte Sybille manchmal aus Enttäuschung, und sie sprach über längst Vergangenes und auch über Versäumtes und vertrat die tief empfundene Meinung, es sei ein Fehler gewesen, überhaupt zu heiraten und Kinder zu kriegen. Das dachte sie natürlich nicht wirklich, aber es zeigte offen ihren Schmerz, den sie gegenüber ihren Töchtern und Paul verbarg. Ruth konnte sich da nicht so zurückhalten. Bei jeder Gelegenheit machte sie abfällige Bemerkungen über die Männer im Allgemeinen und über Paul im Besonderen, und sie stachelte Anuschka damit auf. Weil Anuschka aber ihren Vater liebte, lenkte sie ihre Wut auf Anne, der sie alle Schuld gab, und auch auf deren Söhne, die sich jetzt so selbstverständlich in ihrem Haus einnisteten.
Während draußen im Flur die Packer polterten und Luis mit Laura herumtobte und sie Anne und Paul lachen hörte, saß sie auf ihrem Bett, mit gegrätschten Beinen, die Haare zurückgeworfen, hielt ihr silberfarbenes Handy ans Ohr und telefonierte mit ihrem Freund Stivi.
Stivi ging wie sie aufs Gymnasium Stormarnschule und war zwei Jahre älter als sie. Wie Anuschka wollte er Abitur machen. Es war aber keinesfalls sicher, dass er das schaffen würde, selbst wenn sie ihm dabei half. Zweimal war Stivi bereits sitzen geblieben. In den letzten zwei Jahren hatte er, der Schwarm aller Mädchen, fast jeden Monat eine andere Freundin gehabt. Seit Januar war er mit Anuschka zusammen – Ergebnis einer Wette mit seinem besten Kumpel, von der Anuschka natürlich nichts wusste. Sie war hipp und beliebt, nicht nur weil sie so attraktiv war, sondern mehr noch, weil sie eine Reihe von Vorzügen auf sich vereinte, die sonst kein Mädchen weit und breit zu bieten hatte. Anuschka war sportlich, intelligent, sie konnte unglaublich schlagfertig und zynisch sein, ihre Arroganz war legendär und zog alle in den Bann, weil es sie so unerreichbar und unnahbar machte, dass es jeden aufwertete, dem es gelang, in ihren Kreis aufgenommen zu werden. Dass sich dahinter Unsicherheit und Sensibilität verbarg, behielt Anuschka für sich. Sie war Wortführerin in ihrer Clique, sie gab vor, worüber geredet wurde, was gemacht wurde, wen man gut fand oder ablehnte, was in war oder out. Ihren schlichten Kleidungsstil versuchten viele Schulkameradinnen und Freundinnen zu kopieren. Ihr zurückgenommenes Lächeln, ihre schnellen Bewegungen, ihre nasale Art zu sprechen, ihre Widerborstigkeit gegenüber Lehrern, ihre Furchtlosigkeit gegenüber allen Respektspersonen war absolut chic, und jede versuchte zu sein wie sie, doch keiner gelang das. Dass sie darüber hinaus aus einem reichen Haus kam und ihr Vater Arzt war und damit zu den besten Familien in der Kleinstadt gehörte, war das i-Tüpfelchen, um das sie beneidet wurde und sie besonders scharf machte, für Jungs wie für Mädchen gleichermaßen.
Stivi hingegen kam aus einer Familie, die auf der anderen Seite des Bahnhofs wohnte, in einem Hochhaus, in einer Mietwohnung mit drei Zimmern, die er sich mit seiner Schwester, seinem Bruder und den Eltern teilte. Er war der Älteste. Sein Vater hatte einen Job als Lagerarbeiter im dreißig Minuten entfernt gelegenen Bad
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