Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
du meiner Bitte nicht folgen willst. Die Kinder brauchen ihre Mutter. Sobald ich die Dinge geklärt habe, kommst du zurück.«
»Aber ich habe doch nur Sorge um dich. Was ist, wenn dir etwas zustößt?«
»Sie werden mir nichts tun«, sagte er und bemühte sich um Festigkeit der Stimme.
Sie strich ihm mit zarten Händen über das Gesicht und gab ihm einen langen Kuss. »Wie soll ich es nur ohne dich aushalten, Christoph«, sagte sie atemlos und drängte sich gegen ihn.
»Es wird gewiss nicht allzu lange dauern«, flüsterte er.
»Würdest du mich jemals verlassen?«
»Niemals.«
»Auch nicht wegen einer anderen Frau?«
»Juliane!«
»Schhhhhhht.« Es war nur ein Flüstern. Juliane legte ihm einen Finger auf den Mund, lächelte und öffnete mit einer raschen Bewegung den Verschluss ihres Kleides.
Noch bevor es zu Boden fiel und er sich an ihrer plötzlichen Nacktheit berauschen konnte, bedeckte sie sich mit einem Laken und löschte die Lampe.
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JENA
8. MAI 1793
Der Mann richtete sich auf, reckte den Kopf und spürte, wie die Windböen aus allen Richtungen über seine Wangen strichen. Er blickte über das Plateau der Berge, das tief geschnittene Saaltal mit ausgedehnten Wäldern, hervorspringenden Quellen und steilen Felsen. Von den Bergen zog ein Gewitter herauf, in der Ferne grollte der Donner.
Der Freund, der ihn begleitete, stand weiter abseits, sah nach oben, verfolgte gebannt den Zug der Wolken, die immer dunkler wurden und sich zusammenballten.
Nun war der Moment gekommen, sich seiner Aufsicht zu entziehen.
Das Blut pulsierte in seinem Kopf, als er über den grünsamtenen Teppich aus wohlriechenden Kräutern bis zum Wald zu laufen begann. Das Gewitter kam näher, der erste Blitz fuhr durch die Bäume, ein entsetzliches Krachen ließ ihn innehalten. Wimmernd sah er sich nach einem Versteck um, kroch über den lehmigen Boden, fand eine Vertiefung hinter einer ausgerissenen Baumwurzel. Dort hielt er sich die Ohren zu. Das Gewitter und die Rufe des Freundes wurden leiser, nur die Stimmen in seinem Kopf wollten nicht ruhen. Dann setzte der Regen ein, hüllte den Wald in einen dunstigen Schleier, tauchte die Baumstämme in ein silbriges Licht.
Die untergehende Sonne warf ihre Strahlen funkelnd durch das Blattwerk, als der Mann endlich die Hände von den Ohren nahm, seinen Kopf hob und die Nase witternd in die Luft streckte. Der Boden dampfte feucht, die Luft roch nach Erde und gärendem Laub.
Ein leises Rascheln ließ ihn zusammenzucken. Er wollte sich soeben wieder in sein schützendes Versteck kauern, als er ein Reh sah, |278| das mit der Nase auf dem Boden schnüffelnd nach Nahrung suchte und erstarrte, als es ihn bemerkte. Dann rührte sich das Waldtier und verschwand zwischen den Bäumen.
Der Mann hielt inne. Die Stimmen in seinem Kopf, sonst laut und tönend, hatten sich zu einem leisen Rauschen gewandelt. Nur eine drang zu ihm durch. »Die Vollendung des Werks geschieht weder mit dem Feuer noch mit den Händen, sondern allein mit dem Herzen«, flüsterte sie.
Er schüttelte den Kopf und schlug nach seinem Ohr. Es wird Zeit zu handeln, dachte er in einem plötzlichen Moment geistiger Klarheit, und endlich das hinter mir zu lassen, was mein Leben zerstört hat.
Je weiter er den Berg hinabkroch, desto wärmer wurde der Wind. Aus Wäldern wurden Felder. Er stolperte über lehmige Ackerkrumen, über Wiesengründe und durch kleine Sümpfe, vorbei an Erlen und Schwarzpappeln. Einmal blieb sein Fuß in einer plötzlichen Vertiefung hängen, er schrie vor Schmerz, dann beruhigte er sich, bezwang seinen Körper mit der Kraft des Geistes. Hierin hatte er Übung.
Endlich erreichte er die Obstbäume, die Kirschen waren beinahe verblüht, nun trieben die Birnen und Quitten Knospen. Hellgrüne Segelfalter spielten Fangen im Wind. Er sah die Mauern der Stadt, den tiefen Graben, Menschen, die über die Allee flanierten. Grölende Burschen und Frauen mit kleinen Schirmchen und üppigen Hüten. Jena, unverkennbar. Kein Tag war vergangen, an dem er sich nicht wünschte, diese Stadt niemals betreten zu haben, nun war er wieder hier. Es hatte sich seitdem nichts verändert, er erkannte den Fluss, die Gärten, das Gasthaus
Zur Tanne
. Sein Geist war plötzlich klar wie nie, und er wusste genau, was nun zu tun war. Einmal noch musste er zurück, bevor er für immer gehen konnte.
Weiter unten stand ein Wacholderbusch, der ihm Schutz vor dem angeblichen Freund versprach, den er nun über die Brücke
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