Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
kurzem abgerissen worden. Es ist wirklich besser, wenn wir jetzt gehen.«
»Das kann Tage her sein. Bitte, lassen Sie es uns zumindest versuchen.« Helene überlegte nur kurz, dann löste sie ihren Armreif vom Handgelenk und bog die Enden leicht zur Seite. Vorsichtig schob sie eins in die Schlüsselöffnung, bewegte es vorsichtig, bis sie auf Widerstand traf. Sie drückte dagegen, dann öffnete sich das Schloss mit einem schnappenden Geräusch, und die Tür sprang auf.
»Ich hatte zwei kleine Brüder«, erklärte sie, als Hufeland den Mund ungläubig öffnete.
Kaum hatte sie den Korridor betreten, wurden die Erinnerungen wieder wach. Und mit jedem Schritt, den sie machte, schien es ihr, als würde die Zeit ein Stück zurückgedreht. Dann stand sie vor dem Raum, in dem sie damals den betäubenden Trank bekommen hatte, und bevor sie die Tür öffnete, drehte sie sich um, versicherte sich, dass sie nicht allein war.
Der Raum war dunkel, nur das schemenhafte Licht, das durch den Korridor einfiel, warf einen schmalen Streifen auf den Boden. An der Längsseite stand die Pritsche, daneben der Tisch, den sie nach Martin Ebeling geworfen hatte und dessen Kanten beschädigt waren.
»Ist es das, was Sie gesucht haben?« Hufeland blieb im Eingang stehen und spähte hinein.
Helene antwortete nicht. Sie sah sich nach einer Lampe um, fand auf dem Tisch eine breite Kerze.
»Haben Sie Schwefelhölzer?«, fragte sie.
|285| Hufeland fand welche in der Tasche seiner Weste und gab sie ihr.
Kaum hatte sie den Docht entzündet, trat sie in die Mitte des Raums und hielt die Kerze zur Decke empor.
»Sehen Sie die Sonne?«, fragte Helene flüsternd. »Sie ist ein Symbol für das Männliche, für alles Aktive, Feurige.« Sie dachte an ihren Vater und an die Vertrautheit, die sich entsponnen hatte, wenn sie und Albert ihm bei der Arbeit zusehen durften und er von alten Kulturen erzählte; von Ägypten, dem hellenischen Griechenland und von deren bildgewaltigen Sprachen. »Das ganze Haus ist voller seltsamer Malereien.«
»Geben Sie mir die Kerze«, bat Hufeland. »Ich gehe voran.«
Sie gingen weiter, die kleine Flamme vor sich tragend, durch eine schmale Tür zu dem Gang, dessen kunstvolle Bilder im flackernden Kerzenlicht zum Leben erweckt zu werden schienen. Helene sah Blut, das sich aus dem Herz einer Schlange ergoss, die Zeiger der Weltuhr, die das nahe irdische Ende ankündigten. Bilder, die sie beinahe verdrängt hatte und deren Anblick ihr nun den Hals zuschnürte.
Linker Hand befand sich eine schmale Tür, sie war angelehnt, und Helene erinnerte sich daran, dass dahinter eine Treppe lag. Von dort unten war Ebeling gekommen, bevor er sie durch das Waldstück zum Gasthof verfolgt hatte. Helene sog schnuppernd die Luft ein. Es roch, als sei hier vor nicht allzu langer Zeit etwas verbrannt worden.
»Lassen Sie uns zum Saal gehen«, flüsterte sie beklommen und zeigte in die entgegengesetzte Richtung.
Der Gang wurde schmaler, doch anders als in ihrer Erinnerung war er nicht allzu lang und führte nach einer Windung bald in den großen Saal, den sie nun zögernd betraten.
Durch einen Spalt in den Falten des dunklen Tuches, das vor dem Fenster hing, drang ein schmaler Lichtstreifen, in dem der Staub tanzte. Breit genug, um den großen Altar in der Mitte des Raums zu beleuchten und das Bild einer sich um einen Stab windenden Schlange auf dunklem Teppich.
»Der Stab des Äskulap«, flüsterte Hufeland und zählte leise die |286| Windungen des Schlangenleibs. »Es sind vier. Dieselbe Anzahl wie auf den Handgelenken.«
Erinnerungen stürmten auf Helene ein, sie atmete heftig, versuchte sich zu beruhigen, bis die aufsteigenden Bilder ihren Schrecken verloren. Dann ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen. Es waren zwei Malereien, die ihre Aufmerksamkeit erregten. Direkt an der Decke über dem Altar war das Bild eines Mondes. Dort aber, wo vor Jahren das Gemälde dieses mysteriösen Mannes gehangen hatte, war nun das Bildnis eines geflügelten Stabes zu sehen, um den sich zwei Schlangen wanden und miteinander vereinten.
»Und hier der Stab des Götterboten! Sie glauben, das Geheimnis der Unsterblichkeit liegt in der Überwindung der Gegensätzlichkeiten von Mann und Frau«, erkannte sie plötzlich.
»Dies ist unser glänzender Hermes, das große Geheimnis der Allmächtigen; dieses ist unser Mond, welcher die Sonne zum Gemahl nimmt und zubereitet alle Krankheiten heilet.«
Hufeland sah sie fragend an. »Woher kennen Sie
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