Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
einsehbar war, doch es war noch früh, die Wege menschenleer. Sie setzten sich.
»Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich weiß. Carl Lohenkamp forderte am Tag vor dem Unglück etwas von Albert zurück, wohl eben jenes Gesuchte, von dem er schrieb. Lohenkamp, so erzählte mir mein Schwager, war äußerst aufgebracht, doch Albert hatte ihn erst noch beruhigen können. Tags darauf kam es dann zu dem Duell, bei dem Lohenkamp in einen Blutrausch geriet – er war als Hitzkopf bekannt. Doch als Albert getroffen am Boden lag, schien er mir eher kontrolliert, und er durchwühlte Alberts Taschen, auf der Suche nach etwas, das er offensichtlich nicht fand. Nun trat Ludwig Gerstel auf, warf sich auf den leblosen Albert und rief, es sei seine Schuld. Seitdem wurde er nicht mehr gesehen, bis Johann und ich ihn in Alberts Grab entdeckten. Gerstel war es auch, der im Accouchierhaus von einem der jungen Mädchen erkannt wurde, an denen die Verbindungsbrüder sich vergangen hatten. Und seit wenigen Tagen weiß ich, dass es damals Ludwigs Aufgabe war, den Mädchen den betäubenden Trank zu geben.«
»Die Verbindungsbrüder haben sich an den jungen Mädchen vergangen?«, fragte sie erschüttert.
»Ja.« Hufeland sah zu Boden und schwieg.
Sie dachte an Johann, was er in jenen Räumen alles so getrieben hatte – sie wollte es besser gar nicht wissen –, und an Alberts Brief. War das die Tat, die er nie hätte begehen sollen? Hatte auch er sich an Mädchen vergangen? Und sie dachte an ihr Erlebnis dort. Nein, sie hätte es doch merken müssen, wenn sie ihr etwas angetan hätten, oder nicht?
Hufeland schien ihre Gedanken erraten zu haben. »Es scheint, als hätten sie nur Mädchen missbraucht, deren Menstruationsblut gerade zum ersten Mal geflossen war«, sagte er.
»Das ist grauenhaft!« Helene dachte an die Nacht, in der man sie betäubt hatte. Sie sprang auf. »Ich möchte etwas tun, Christoph. Ich habe lange genug in Untätigkeit verharrt.«
»Was wollen Sie denn tun?«, fragte Hufeland und stand ebenfalls |283| auf. »Wollen Sie sich in Gefahr bringen? Nein, Helene, es ist riskant genug, sich in meiner Gesellschaft zu zeigen. Überlassen Sie mir die Untersuchungen, ich werde mich darum kümmern.«
Sie tat, als habe sie seinen Einwand nicht gehört. Dann machte sie ein paar Schritte in Richtung Fluss, bis sie über die Gärten hinweg auf den Kiesstreifen und weiter ans andere Ufer der Saale sehen konnte. Über die Felder hinweg, am Hausberg vorbei zum Gasthof
Zur Tanne
und dem daran anschließenden Rittergut.
»Ich möchte zu gern wissen, ob es die Räume im alten Rittergut noch gibt.«
»Sie werden doch nicht etwa … Und wenn man sie neu verpachtet hat?«
»Das werden wir herausfinden. Los, kommen Sie. Sie wollen mich doch nicht allein dorthin gehen lassen?«
Damit raffte sie den Rock und lief den Weg zurück zum Stadtgraben, den Klang seiner Schritte hinter sich.
»Helene, warten Sie. Das ist Unsinn. Was, wenn dort jemand ist?« Er hatte sie schnell eingeholt. »Bleiben Sie doch stehen. Bitte!«
Etwas in seiner Stimme ließ sie schmunzeln. Er hatte tatsächlich Angst. Sie blieb stehen. »Einmal in Königsberg, als ein heftiges Gewitter aufzog und wir mit einem kleinen Ruderboot mitten auf der Pregel waren, da wollte ich mich flach auf den Boden legen und abwarten, bis alles vorüber wäre. Albert jedoch wusste, was dann passieren würde, denn der Wind kam von Süden und drückte das Wasser zurück ins Meer. Wissen Sie, was er getan hat? Er ist gerudert! Er hat den Kampf mit dem Sturm aufgenommen, selbst als es hoffnungslos schien.« Sie sah ihn auffordernd an.
»Und hat er es geschafft?«, fragte er.
»Was glauben Sie?«
Er nickte, dann umspielte ein feines Lächeln seine Lippen. »Sie sind eine erstaunliche Frau, Helene. Und noch werde ich nicht schlau aus Ihnen.«
Bald erreichten sie die Tannen, die noch dichter standen, als sie es in Erinnerung hatte, der Pfad war überwuchert, beinahe nicht zu |284| erkennen. Hufeland ging vor ihr, hielt störrische Zweige beiseite und schimpfte leise, als einer ihm ins Gesicht schlug. Es dauerte nicht lange, da standen sie vor der Tür, die zum Labor führte. Hufeland zögerte einen Moment, dann drückte er die Klinke herunter. Die Tür blieb verschlossen. Er rüttelte heftig, sie ächzte, aber sie hielt stand.
»Sie ist verschlossen«, meldete er, und es klang, als wäre es ihm ganz recht. Dann hob er einen Strang Efeu vom Boden. »Sehen Sie die Ranken? Die sind erst vor
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