Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
laufen sah, durch das Tor in die Stadt. Hier, tief im dichten Geäst, kauerte er sich nieder und wartete still, bis die Nacht hereinbrach und auch die letzten Menschen hinter der Stadtmauer verschwunden waren. |279| Das Mondlicht glitzerte auf dem Wasser in tausend kleinen Funken, als er das Ufer der Saale erreichte. Er hockte sich in den Sand, ließ kleine Kiesel durch seine Finger rinnen, fand einen wasserhellen Quarz mit pyramidenförmig zugespitzten Kristallen und schuppiges Katzengold. Mit einer raschen Bewegung ließ er die Steine in seiner Hosentasche verschwinden. Dann beugte er sich zum Fluss, schöpfte das Wasser mit beiden Händen und kühlte sein Gesicht. Das kalte Nass tat gut.
Vorhin, als er beim Wacholderbusch hockte und auf den Einbruch der Nacht wartete, da waren die Dämonen wiedergekommen, hatten wieder zu schreien begonnen. Nur mit Mühe hatte er sie wieder zurückdrängen können.
»Bleib«, flüsterte er seinem Verstand zu und tauchte den ganzen Kopf ins eiskalte Wasser, »bleib und tu deine Pflicht, dann bist du erlöst.«
Als er sich sicher war, dass ihm niemand gefolgt war, erhob er sich und schlich im Schatten der Büsche weiter, bis auf den Weg und schließlich in den kleinen Tannenwald, der direkt an das Rittergut grenzte. Je näher er kam, desto lauter begehrten die Stimmen in seinem Kopf auf. Noch konnte er sie bändigen.
Der Mond war hinter dem Berg verschwunden, als er sich auf den Boden kniete und die Stelle im Mauerwerk abtastete, an der sie damals den Schlüssel verborgen hielten. Er war noch immer dort.
Der Efeu hatte sich in den Jahren in die Mauer gefressen, über Tür und Schloss. Er riss die Ranken beiseite und steckte den Schlüssel ins Schloss. Gleich, dachte er, gleich ist es vollbracht.
Die Tür öffnete sich nur mit größter Mühe, feuchtkalte Luft schlug ihm entgegen. Er tastete sich die Mauern entlang, das Dunkle war ihm vertraut. Rasch fand er das Gesuchte, betrachtete das alte, wellig gewordene Papier und rang mit sich, was nun zu tun sei. Dann ging er weiter zur schmalen Holztür und stieg die Stufen hinab in jenes Gewölbe, in dem man vor Jahren sein Verderben beschlossen hatte.
Dort hob er einen Tontopf vom Boden und legte das Papier hinein. Die klamme Kälte machte seine Finger steif, doch sie vermochte |280| seine innere Hitze nicht zu mindern. Ihm entfuhr ein kurzes Lachen, während er Quarz und Katzengold aneinanderschlug, bis die Funken stoben. Sie hatten überall gesucht, hatten erpresst und gefoltert. Dabei war die Rezeptur die ganze Zeit hier, in ihrer Mitte.
Einen Augenblick hielt er zögernd inne, dann endlich wusste er, was zu tun war.
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JENA
9. MAI 1793
Sie hatten vereinbart, sich in der Frühe am Ufer der Saale zu treffen, dort, wo der Fluss eine Biegung machte, am Rande der von Buchenhecken, Linden und wilden Kastanien eingefassten Wiese, die man in Jena nur das Paradies nannte.
Helene ging am Stadtgraben entlang, passierte die Gärten, in denen der Flieder in den schönsten Farben blühte. Die Vögel sangen ihr Morgenlied, hoch am Himmel zog ein Bussard seine Kreise.
Noch bevor Helene den verabredeten Ort erreichte, hörte sie das lebhafte Rauschen des Flusses. Sie sah hinüber zu den Bergen, die die Stadt umrahmten, und reckte das Gesicht in die Sonne. Die Luft war warm. Helene atmete tief durch und musste zugeben, dass sie nervös war. Sie stieß mit dem Fuß gegen einen Kiesel, beobachtete, wie er über den Sandweg hüpfte, und setzte ihren Weg fort.
Hufeland stand mit dem Rücken zu ihr, blickte auf den Mühlgraben, der hier seine Abzweigung nahm. Dann wurde er ihrer Schritte gewahr, drehte sich um und ging ihr entgegen.
»Guten Morgen, Helene, wie geht es Ihnen? Sie sehen blass aus.«
»Ich habe schlecht geschlafen«, sagte sie, und es war nur die halbe Wahrheit. Sie hatte kaum ein Auge zumachen können. Seitdem Hufeland ihr erzählt hatte, dass Alberts Leiche verschwunden war, kreisten ihre Gedanken unablässig um die Fragen, ob er wohl noch lebe und ob es ihm gut ging.#
»Ich habe«, fuhr sie fort, »um dieses Treffen gebeten, weil ich keine Ruhe finden kann, bevor ich nicht weiß, was damals geschehen ist. Ich möchte begreifen, warum mein Bruder erstochen wurde. Warum ein anderer im Grab lag. Ob er noch lebt. Und was er meinte, als er schrieb, er halte das Gesuchte in den Händen.«
Hufeland sah sich nervös um. Dann zog er sie zu einer Bank am |282| Rande der Buchenhecke, die nur für vorbeikommende Spaziergänger
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