Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
das?«
»Es ist lange her. Mein Vater war Alchemist und hat viel über die Symbole und über die alten Texte des Hermes Trismegistos erzählt. Alles, was er Albert und mir vor vielen Jahren beibrachte, ergibt nun neuen Sinn.« Sie ging zum Fenster und riss den Vorhang auf. Das Licht nahm dem Raum seinen Schrecken. »Der Stab des Äskulaps dort auf dem Teppich mit der sich windenden Schlange repräsentiert nur die Suche nach der Wahrheit. Die Lösung liegt in der zweiten Schlange, so wie beim Stab des Hermes, um den sich zwei Schlangen winden.«
»Das ergibt keinen Sinn.«
»Doch, sehen Sie hier. Alle Symbole in diesen Räumen weisen in die gleiche Richtung.« Helene deutete auf das Bild an der Wand. »Seit Angedenken versuchen die Alchemisten eine Möglichkeit zu finden, die Himmelskräfte auf die Erde in die Materie zu ziehen, um mit dieser Verbindung eine heilkräftige Medizin zu schaffen. Sie nennen diese göttliche Kraft das fünfte Element oder das lebenbringende Licht, die den Geist beherrschende Quintessenz. Diese muss sich mit den vier irdischen Elementen verbinden, um |287| gottgleiche Wirkung zu entfalten. Das geflügelte Symbol des Götterboten Hermes zeigt einen möglichen Schlüssel zum Himmelreich. Auf seinem Stab, der ihm in der griechischen Mythologie als Zeichen seiner Macht und Glorie dient, stehen sich zwei Schlangen gegenüber und verbinden sich aus ihrer Gegensätzlichkeit heraus zur Einheit.« Sie war ganz ruhig, auch wenn ihr die Erkenntnis beinahe den Atem nahm. »Die Verbindung scheint zu glauben, dass die Verschmelzung von himmlischer und irdischer Kraft erreichbar ist, wenn sich die beiden Pole des Lebens verbinden. Es ist die Vereinigung des männlichen und weiblichen Prinzips, die das Licht hervorbringt. Erinnern Sie sich an das Bild der Sonne, das Symbol des Männlichen? Sie ist kraftvoll und stark, doch allein ohne Macht.« Sie zeigte auf das Bild des Mondes an der Decke. »Hier ist ihr Gegenstück. Ohne die feine Durchdringung des Mondes, des weiblichen Prinzips, kann es kein Leben geben. Das Licht, das Leben erzeugt, ist im Mond.
Doch das Licht kann nur durch eine Hitze in Bewegung gebracht werden, durch den männlichen Phallus, zur bewegenden und quellenden Kraft.
Das, was in der hermetischen Tradition den Weg zur Unsterblichkeit symbolisiert, wird in dieser Verbindung zum profanen Zeugungsakt.«
»So dienten die Mädchen, die sie missbrauchten, einem unheilvollen Ritual?«, fragte Hufeland ungläubig.
»Ja. An einem Zeitpunkt, an dem sie zum ersten Mal zur vollen Fruchtbarkeit gelangten.« Sie schüttelte angewidert den Kopf. »Diese Verbindung scheint sich dämonischer Bräuche zu bedienen, um zu erreichen, was ihnen mit ihren wissenschaftlichen Methoden offensichtlich nicht gelungen war. Sie glaubten wohl, mit dem rituellen Höhepunkt eine magische Kraft zu entzünden, die die
Prima Materia
transformiert.«
»In den Werken des Aristoteles wird die
Prima Materia
als Urstoff beschrieben, die noch ungeformte Materie.«
»Mein Vater glaubte, es brauche eine reine Substanz, aus der sich mit Hilfe alchemistischer Prinzipien der Stein der Weisen gewinnen lasse. Wie genau diese Substanz beschaffen sein sollte, wusste auch er nicht, doch ich sah ihn mit Morgentau experimentieren |288| und mit dem Regenwasser. Er verglich diesen Urstoff mit dem Mutterschoß, der Fruchtblase, der Substanz, die Leben gebiert. Die Verbindung glaubte wohl, es in dem Blut junger Mädchen gefunden zu haben.«
Hufeland betrachtete den steinernen Altar. »Sie waren also auf der Suche nach einem Weg, aus dem Blut junger Mädchen mit Hilfe von rituellen Vereinigungen eine Arznei von unermesslicher Kraft zu erschaffen, die Alterslosigkeit verspräche und die Befreiung von jeglicher Krankheit. Aber wie soll ein Ritual, so dämonisch es auch sein mag, eine Substanz verändern können?«
»Ich kann es Ihnen nicht sagen.« Helene zuckte die Schultern. »Und es schien ihnen auch nicht zu gelingen. Johann war unzufrieden. Alles, was er sich erträumt hatte, die Entdeckung des allheilenden Mittels, war auch nach Jahren nicht erreicht. In den letzten Jahren veränderte er sich, war immer öfter in sich gekehrt und still. Manchmal, wenn er zu viel getrunken hatte, brach seine Wut hervor. Dann war es besser, ihm aus dem Weg zu gehen.« Sie sah Hufeland an, der noch immer die Kerze hielt. Er erwiderte ihren Blick.
»Albert schrieb, dass er das Gesuchte in den Händen halte. War es das, was der Verbindung fehlte, um die
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