Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
Dann zerstieß sie die nackten Kerne mit dem Holzstößel zu einem dicken Brei, bis ein zarter, süßlicher Duft im Raum schwebte, tat ein wenig Rosenwasser und Zucker hinzu und rieb sich zufrieden die Nase. Sie sah von der Arbeitsfläche auf zu dem gut gefüllten Regal, wo sich inzwischen unzählige, nach Namen sortierte Fläschchen und beschriftete Tiegel befanden. Schließlich entschied sie sich für die gemahlenen Kakaobohnen.
Die Begegnung mit der Welt der Aromen war für sie ihm Lauf der Jahre zu einer tröstlichen Zuflucht geworden. Sie hatte begonnen, dem Konfekt Stoffe beizumischen, die man zu den Arzneien zählte und die eine Wirkung entfalteten, die weit über den reinen Genuss hinausging. Bald hatte sie nicht nur nach schmackhaften Kräutern und Arzneigewürzen Ausschau gehalten, sondern auch nach Mineralien, die sich pulverisieren ließen und deren Beschaffung für sie kein Problem dargestellt hatte. Bis zu dem Zeitpunkt, da Johann verschwunden war.
Irgendwann hatte sie das wenige
Vogtsche Lebenswasser
, das die beiden Polizisten nicht zerstört hatten, verwendet und Unglaubliches entdeckt: Die Medizin, die ihr Mann teuer verkauft hatte und die im Gebrauch nichts weiter als ein Stärkungsmittel zu sein |305| schien, entfaltete durch kräftige Verrührung eine Wirkung, die sie anfangs kaum glauben wollte.
Helene nahm ein sauberes Gefäß, tat die gemahlenen Kakaobohnen hinein und einige Tropfen des köstlichen Likörs, den sie bei einem auswärtigen Bauern entdeckt hatte, dann vermengte sie das Ganze mit persischem Zucker. Der Herzog hatte seinen Hofbäcker um Konfekt mit aphrodisierenden Zutaten gebeten, also hatte sie sich für Zimt, Vanille und einen Hauch der scharfen Chilischote entschieden, dazu ein wenig vom Sud der Alraune. Aus einem Rosenspat hatte sie ein feines Pulver gerieben, das sie nun ebenfalls beimengte.
Im selben Moment, als sie das Feuer im Ofen entfachte, drang aus dem Schlafzimmer ein lautes Brüllen. Sofort lief sie hinüber und setzte sich ans Bett, strich dem Mann über die Stirn, der nun die Augen verdrehte, bis man das Weiße sah, und seinen Kopf zurück ins Kissen sinken ließ.
»Alles wird gut«, flüsterte sie, während sie ihm über den vernarbten Schädel strich, auf dem das Haar in spärlichen Büscheln nachwuchs. »Alles wird gut.« Doch die Worte verklangen, ohne dass sie selbst davon überzeugt gewesen wäre. Noch immer erschütterte sie sein Anblick. Seitdem sie erkannt hatte, dass der bärtige Mann, der sie verfolgte, ihr tot geglaubter Bruder Albert war, hatte sie kein Auge mehr zugetan. Die heftige Wiedersehensfreude, die sie zuerst empfunden hatte, war bald einem tiefen Schrecken gewichen. Ihr Bruder war nicht mehr der, den sie kannte. Er war zu einem Monstrum geworden, das in wilden Träumen um sich schlug und sie mal weinend erkannte, dann wieder mit den schlimmsten Beschimpfungen von sich stieß. In der Nacht hatte sie ihn auf einem Schränkchen hockend vorgefunden, seltsame Worte rezitierend, die einem Lied entstammen mochten oder einer Predigt. Sie hatte ihn in den Arm genommen und ihm flüsternd von ihrer gemeinsamen Kindheit erzählt, bis er sich hatte überreden lassen, vom Schränkchen herabzusteigen.
»Helene?«, sagte er nun und schlug die Augen auf. »Ist es noch weit bis nach Königsberg?«
|306| »Albert«, flüsterte sie und nahm seine Hand. »Nein, es ist nicht mehr weit. Schon bald werden wir aufbrechen.« Sie hatte es aufgegeben, ihm zu erklären, dass sie in Jena waren und vorerst auch hier bleiben würden. Er lebte in einer Welt, in die sie ihm nicht folgen konnte.
»Vater?« Er stieß ein kurzes Lachen aus. »Vater ist da, Helene, hast du gesehen, wie klein er geworden ist? Ich habe ihm gesagt, er soll aufpassen, doch er hat nicht auf mich gehört.« Er zuckte zusammen und schloss die Augen, fiel in einen unruhigen Schlaf.
Helene seufzte. So konnte es nicht weitergehen. Zumal Albert sich in Gefahr befand, wenn er bei ihr bliebe. Wenn es stimmte, was Christoph ihr erzählt hatte, dann konnte Johann jederzeit zurückkehren. Nein, es war unverantwortlich zu glauben, dass sie Albert allein mit schwesterlicher Liebe zu Verstand bringen könnte, während sich Johann vielleicht bereits auf dem Weg nach Jena befand. Sie durfte ihren Bruder nicht länger hierlassen.
Sie stand auf und schloss leise die Tür. Sie musste Christoph um Hilfe bitten, allein würde sie es nicht schaffen.
Es war gegen zehn, als Hufeland Helene durch die
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