Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
der Lektion einen Beweis für Gottes Allmacht sehen sollten oder ob der Schauder größer sei, hier einen Menschen zu sehen, dessen Seele niemals in ganzen Stücken ins Himmelreich gelangen würde, bis sie endlich auf den oberen Rängen |298| Platz nahmen, um das Spektakel von weitem zu verfolgen. In der ersten Reihe nahmen die Professoren Platz. Als Hufeland eintrat, sah er Gruner, Schiller, Stark und Griesbach, daneben einen freien Platz, auf den er sich setzte.
Professor Loder trat vor die Zuschauer, bemüht, eine angemessene Würde an den Tag zu legen, hüstelte, bis gespannte Ruhe einkehrte, und erklärte dann, was die Zuschauer in den nächsten Stunden erwarten würde.
»Wie bereits der Mediziner Werner Rolfinck bei seinen ersten Sektionen am Collegium Jenense betonte:
Medicinae oculus est anatomia
, das Auge der Arznei ist die Zerteilung der Glieder. Doch es gibt nichts Traurigeres, als sich im selben Raum mit Leichen zu befinden, und ich bitte Sie um Respekt und Anstand. Verwesende Körper sind nichts zur Belustigung, ganz im Gegenteil. Sie verbreiten Gestank und Schmutz und unser Interesse kann kein anderes sein als ein wissenschaftliches. Die Sezierkunst ist unser Ariadnefaden durch das Labyrinth des menschlichen Körpers, und sie wird auch Ihnen zu weiteren Erkenntnissen verhelfen.« Er sah in die aufmerksamen Gesichter, nickte den Kollegen in der ersten Reihe zu. »Wir beginnen mit der Sezierung der Brust. Das Herz, eines der schönsten Organe, wird Sie in Staunen versetzen. Nachdem wir uns dann den Bauchorganen zugewendet haben, möchte ich Ihre geschätzte Aufmerksamkeit auf das Gehirn lenken. Wenn wir der Idee von Hallers folgen, so sollte hier der Nervensaft aus dem Blut des Gehirns abgesondert und in die hohlen Nervenfasern geleitet werden, in einen Kreislauf gleich unserem Blutsystem. Wir werden der Leiche diese Fasern entnehmen, vornehmlich die der Augäpfel, die hierfür am günstigsten erscheinen, sie zergliedern und es Alexander Monro und Felice Fontana gleichtun, sie mit einem Lichtmikroskop, einer unserer neuesten Errungenschaften, zu durchleuchten. Ich bitte Sie dann, unter Berücksichtigung von Calvanis Experimenten mit der Elektrisiermaschine und einem metallischen Leiter, Ihre eigenen Schlüsse zu ziehen, ob die Theorie von Hallers noch heute Bestand hat.«
Ein Gemurmel erhob sich. Einige Philister begannen, leise zu tuscheln, |299| die ersten Gaffer machten enttäuschte Gesichter. Hufeland lächelte Loder zu. Nichts anderes als der medizinische Nutzen sollte hier in den Mittelpunkt gerückt werden und jegliche Sensationslust vertrieben.
Professor Loder hob nun das Tuch an, das die Leiche bedeckte, und als er es bis über die weibliche Scham hinaus zurückschlug, offenbarte sich den Zuschauern ein faltiger weißer Körper mit schwammig aufgedunsener Haut. Neben dunkel gefärbten Flecken waren hier und dort Flechten zu sehen, rote, schuppige Stellen an Brüsten und Schenkeln. Einige Zuschauer sahen peinlich berührt zur Seite, andere reckten die Hälse. Nie hatte dieser arme Körper zu Lebzeiten eine derart große Aufmerksamkeit genossen.
»Wie Sie sehen, und dies nur als Information für die Ängstlichen unter Ihnen, ist diese Dame in der Tat verstorben. Die bläulichen Flecken auf der Haut sind der Beweis. Ich werde jetzt den ersten Schnitt setzen.«
Er zog sich ein Paar Handschuhe über und nahm das Seziermesser in die rechte Hand. Die Klinge stieß in das weiße Fleisch, und während Loder mit Kraft durch die ersten Fettschichten drang, erreichte der Geruch der Verwesung die ersten Reihen.
Ein junger Bursche hielt sich sein Jabot vor den Mund und stürzte schließlich, nicht minder blass als die Leiche, hinaus. Ihm folgten ein beleibter Mann und zwei weitere Studenten.
Es dauerte eine Weile, bis der Brustkorb auseinandergeklappt war. Loder schob Fettgewebe und Organe auseinander und arbeitete konzentriert daran, das Herz hinauszutrennen, bis er es unter Applaus beinahe triumphierend hochhielt und es in eine Schale legte, die nun im Zuschauerraum herumgehen sollte.
Während der Professor mit begleitenden Erklärungen begann, den Brustkorb weiter in Richtung der Bauchorgane aufzuschlitzen, entstieg dem Leichnam ein bestialischer Gestank, der nichts mit dem der Tierkadaver gemein hatte, deren Geruch einer gewissen Gewöhnung unterlag, nachdem man sie bereits des Öfteren zur Erläuterung der Bänder und Knochen verwendet hatte. Das Gemurmel wurde lauter, ebenso das Stühlerücken
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