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Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Koschyk
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nächtlichen Gassen zur Wohnung am unteren Markt begleitete. Er hatte nicht weiter gefragt, was sie um diese Zeit von ihm wollte, ihr verzweifelter Blick war ihm Antrieb genug.
    Nun schloss sie die Tür auf und lauschte, dann bat sie ihn hinein.
    Er folgte ihr in einen dunklen Raum, in dem ein großes Bett stand, und fühlte sich augenblicklich unbehaglich. Doch als sie den Finger auf die Lippen legte und eine Kerze entzündete, erkannte er eine gewölbte Silhouette, einen Berg aus Decken und Kissen. Er trat näher.
    Im Bett lag ein Mann, dessen Aussehen ihn erschaudern ließ. Es war eine bedauernswerte Kreatur, aus deren Schädel vereinzelt Haarbüschel sprossen und auf deren Stirn und Kiefer tief eingegrabene Wundmale zu sehen waren. Ein Band verbrannter Haut zog sich bis über den Nacken hinab.
    Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Halbdunkel. Er betrachtete |307| das Gesicht, die hohen Wangenknochen und erkannte, wer dieser Mann war.
    »Albert …« Tränen schossen ihm in die Augen. Er kniete sich vor das Bett, griff nach der Hand des Mannes. »Albert, großer Gott, Albert!« Die Gefühle überwältigten ihn, Schmerz und Freude zugleich. Der Mann, der vor ihm lag, war unsagbar zugerichtet. Hufeland schluchzte auf. »Verflucht«, flüsterte er und ließ den Tränen freien Lauf. »Was haben sie mit dir gemacht?«
    Nach einer Weile, in der er Alberts schweren Atem beobachtet und ihm immer wieder über den geschundenen Kopf gestrichen hatte, blickte er auf und sah sich allein im Zimmer. Helene hatte es unbemerkt verlassen.
    Er fand sie in der Küche. Vor ihr auf der Arbeitsplatte lag das herrlichste Konfekt. Schokoladentropfen mit feiner Zuckerkruste, runde Hütchen aus einer hellen Masse, auf deren Oberfläche karamellisierte Nüsse prangten, kleine Würfel mit roter Glasur. Helene hielt einen kleinen Topf in der linken Hand und füllte mit der rechten eine dunkelbraune Masse in kleine Förmchen.
    Als er eintrat, hielt sie in ihrer Bewegung inne und stellte den Topf zurück auf den Herd. »Er ist mir auf der Straße gefolgt. Zuerst bekam ich Angst und lief davon, aber dann erkannte ich sein Gesicht, seinen Blick.«
    »Er sieht furchtbar aus.«
    »Noch schlimmer ist sein Zustand. Er spricht ohne Zusammenhang, ja ohne den geringsten Verstand. Mal schreit er gegen einen imaginären Wärter, sieht einen alten Mann in Gestalt des Teufels, dann kauert er sich hin, wimmernd, wie ein Kind. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich kenne mich nicht aus mit solchen Dingen.« Tränen liefen über ihre Wangen.
    Er hörte ihr zu, betrachtete hilflos ihr kummervolles Gesicht. Als ihr Weinen stärker wurde, nahm er sie in den Arm. Ihr Kopf reichte ihm bis an die Stirn, das Haar roch nach Vanille und Zimt. Der Augenblick verging, wurde zu Minuten. Dann löste sie sich aus seiner Umarmung und versuchte ein Lächeln, doch es misslang.
    »All die Jahre seit meiner Flucht aus Königsberg habe ich gehofft, |308| ihn zu finden, und nun, da es so weit ist, ist er mir fremd. Ich habe Angst. Ich weiß nicht, was nun geschehen soll. Ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können aus Furcht vor seinem Irrsinn. Aber er ist doch mein Bruder. Soll ich ihn in ein Tollhaus geben? Nein, das kann ich nicht.«
    Hufelands Gedanken rasten, drehten sich im Kreise. Wenn Albert hier blieb, brachte er sie womöglich in Gefahr. So wie sie sein Verhalten beschrieb, war er nicht mehr Herr seines Geistes. Helenes Bruder hatte zweifellos Furchtbares durchgemacht. Wie schlimm es wirklich um ihn stand, galt es nun herauszufinden. »Ich nehme ihn mit zu mir. In dem Trakt, in dem wir wohnen, hat außer dem Dienstpersonal niemand Zugang.«
    »Sind Sie sicher, dass Sie das tun wollen?«
    »Absolut. Ich werde einen der Knechte dazu abstellen, vor seiner Tür Wache zu halten, wenn ich meiner Arbeit nachgehe. In der anderen Zeit werde ich mich um ihn kümmern.«
    »Und was wird Ihre Frau dazu sagen?«
    »Meine Frau ist vor wenigen Tagen mit den Kindern verreist. Aber ich bin sicher, sie wird es verstehen.« Das war eine Lüge. Juliane würde einem Irren den Zutritt zu ihrem Haus verwehren, aber was machte es schon, sie war ja fort, zumindest für einige Wochen. Alberts Schicksal lag ihm am Herzen, für ihn wollte er den Streit riskieren, der gewiss folgen würde.
    »Es ist wohl die beste Lösung.« Sie strich sich eine Strähne aus der Stirn. »Aber ich werde bei ihm bleiben, wenn nötig, auch in der Nacht.«
    »Wir müssen Stillschweigen bewahren«, warf er ein.

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