Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
»Ich werde alles tun, um Ihrem Bruder zu helfen, auch wenn ich eine Heilung nicht versprechen kann. Sollte Albert allerdings eine Gefahr für Leib und Leben darstellen, müssen wir ihn in ein Tollhaus geben.«
»Ja, das sehe ich ein«, sagte sie, und ihre Stimme klang müde. »Ich werde Albert jetzt anziehen.« Sie zeigte zur Arbeitsplatte. »Sie dürfen zwischenzeitlich gern vom Marzipankonfekt kosten.« Damit verschwand sie aus der Küche und ließ ihn mit seinen Gedanken allein.
|309| Er sah ihr nach. Noch immer spürte er Helenes Körper an seinem, roch den Duft ihres Haars. Die letzten Minuten hatten ihn in eine Welt entführt, die er schon lange nicht mehr betreten hatte, einer Welt, in der zwei verwandte Seelen einander berührten. Er schämte sich dafür, und jetzt, da Helene den Raum verlassen hatte, stand Juliane im Geiste vor ihm, schmollend wie so oft, ihn mit ihrer ständigen Eifersucht bedrängend, um sich seiner ungebrochenen Zuneigung zu versichern.
Vor wenigen Monaten war der schon lange schwelende Konflikt eskaliert, und er hatte ernsthaft mit Juliane sprechen müssen, was indes nur wenig Wirkung gezeigt hatte. Der Anlass war banal gewesen, sie waren im Theater, und er hatte sich in der Pause seinen Freunden zugewandt, in der Annahme, Juliane würde sich zu den Frauen gesellen und mit ihnen über die schauspielerische Leistung sprechen, über die Kostüme oder über den engelsgleichen Gesang der berühmten Caroline Jagemann. Stattdessen hatte sie am Rande gestanden und darauf gewartet, dass er sie in den Kreis der Herren integrierte. Als er sie, von dieser Anmaßung überrascht, zu den Damen schicken wollte, hatte sie begonnen, mit einem seiner Freunde zu charmieren. Sie hatte sich so aufgeführt, dass er sie kurzerhand am Arm packte und mit ihr das Theater noch vor Beginn des nächsten Akts verließ. Zu Hause hatte sie ein großes Glas Wein hinuntergestürzt, als wäre es Wasser, und ihn mit Nichtachtung gestraft.
Er hatte dieses Spiel so satt, er sehnte sich nach Leichtigkeit und Wärme, und vielleicht mochte es das sein, was ihn an Helene anzog. Aber er würde sich fangen und nicht länger darüber nachdenken und Juliane weiterhin ein guter und treuer Ehegatte sein, ebenso wie er ein pflichtbewusster Vater war. So, wie es sich gehörte.
Sein Blick wanderte zur Arbeitsplatte mit den unterschiedlichen Sorten von Konfekt, und er wählte eines der tropfenförmigen Stückchen, die ein wenig abseits lagen.
Der herb-süße Geruch des Konfekts erinnerte ihn, noch bevor er es zum Mund führte, an seine Kindheit, an das erste Stück Schokolade, an die Tränen, die er vergossen hatte, als ihn seine erste |310| Liebe verließ, die sehnsüchtigen Gedichte, die er daraufhin verfasst hatte, während er schwor, solchen Schmerz nie wieder zuzulassen. Er hielt inne, überrascht von der Vehemenz, mit der das Aroma seine Gedanken zu dieser tief in seinem Herzen verborgenen Erinnerung zu lenken vermochte. Dann ließ er das Konfekt in seinem Mund verschwinden und begann, langsam zu kauen.
Der zarte Schmelz ergoss sich mit feiner Süße im Spiel seiner Zunge. Übrig blieb etwas Warmes, Weiches, das an seinem Gaumen klebte, um jedes Mal, wenn er ihn bewegte, einen Hauch scharfen Aromas hervorzubringen, das ihn in Erregung versetzte. Etwas geschah mit ihm, das sich nicht nur auf seinen Geschmackssinn begrenzte, sondern weit darüber hinausging.
»Was ist das?«, fragte er erschrocken, als Helene den Raum wieder betrat. Er zeigte auf das tropfenförmige Konfekt. Sie errötete. »Oh, Sie haben vom Konfekt für den Herzog probiert? Aber woher sollten Sie auch wissen … «
»Helene«, sagte er mit stetig wachsender Begeisterung. »Das ist wundervoll! Wie haben Sie das gemacht?«
»
Corpora non agunt nisi soluta.
Die Zutaten entfalten nur in ihrem gelösten Zustand einen Geschmack. So erfordert es einer besonderen Trägersubstanz, um das Aroma zur wahren Entfaltung gelangen zu lassen.«
»Das ist großartig.« Er sah sie an. Die Art, wie sie seinem Blick auswich, sagte ihm, dass auch mit ihr etwas geschehen war, seit er sie heute berührt hatte. Vielleicht auch schon seit ihrer Begegnung vor wenigen Tagen.
»Albert ist so weit. Wollen wir gehen?«
»Ja, es ist spät geworden«, murmelte er. Die Aussicht, mit Helene in einem Haus zu sein, versetzte ihn plötzlich in Unruhe.
Er wollte an ihr vorbeigehen, blieb zögernd vor ihr stehen. Überlegte, ob er etwas sagen sollte. Etwas, das sein Verhalten erklärte, ihr
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