Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
tanzen, die Treppe hinab, bis ins Gewölbe. Dort blies er den Staub vom Tisch, ließ Wachs auf das Holz tropfen und presste die Kerze darauf. Der Stuhl knarrte, als er sich setzte. Er starrte in die Flamme und atmete die feuchtkalte Luft ein. Es war lange still gewesen an diesem Ort, bald würde er sich wieder mit Leben füllen. Er lachte auf.
Diese Narren! Sie hatten geglaubt, das Verbot geheimer Orden würde sie aufhalten können, dabei hatte es nichts weiter bedeutet als einen ärgerlichen Verzug. Und nun waren jene rehabilitiert, auf die man noch vor einem Jahr gespuckt hatte. Ein Schreiben hier, eine Nachricht da, seine Netze drangen durch alle Schichten. Rasch hatte das Vergessen eingesetzt, die Menschen erfreuten sich an der blühenden Stadt, die einen Aufstieg erlebte wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
Der Superior lehnte sich zurück, lauschte dem leisen Tröpfeln des Wassers, das von der Decke kam, und schloss die Augen.
Die Planeten standen gut. Kosmische Kräfte kündeten von einem Ereignis, das unmittelbar bevorstand und nichts anderes bedeuten konnte, als dass der Tag bald gekommen war, auf den sie so lange gewartet hatten.
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Der Stein der Weisen verbirgt sich, bis der Künstler in der Natur Hand anlegt
, hatte es in den Texten des Hermes Trismegistos geheißen. Doch so sehr sie die Natur auch zu bezwingen versuchten, es wollte ihnen nicht gelingen. Den Weg, den es hinter den Dingen zu entdecken gab, hatte sich ihm auch mit Hilfe von Symbolen und Ritualen nicht bis in den letzten Winkel erschlossen. Jener Bereich der Schöpfung, der Tod in Leben wandelte und Krankheit in Gesundheit, schien ihm auf eine beharrliche Weise versperrt. Obgleich er vom Geist des hermetischen Wissens durchdrungen war und es verstand, innerlich von einer Welt in die andere zu gehen und die Dämonen zu bezwingen, wie es einst Johnssen tat.
Er öffnete die Augen. Nun galt es, den Verstand zu schärfen, um das Werk zu vollenden. Der Weg zur Rezeptur war nicht mehr weit, und es schien ihm beinahe lächerlich, dass einem kleinen Stück Papier voll irdischer Worte, niedergekritzelt an einem Ort irgendwo in den Katakomben von Paris, eine so große Bedeutung beizumessen war. Doch dieses Blatt war unzweifelhaft der Schlüssel zu einem Geheimnis, von dem nur die höchsten Eingeweihten Kenntnis hatten und das seit Jahrtausenden nur mündlich übertragen worden war. Bis es in Johnssens Hände gelangt war.
Der Superior atmete tief ein und fühlte das Pulsieren, das seinen Körper durchströmte, in Erwartung dessen, was da käme.
All das, was bislang in diesen Räumen geschehen war, war nichts weiter als eine Initiierung, um dem eigentlichen Ziel Macht zu verleihen.
Die weibliche Vulva ist ein Brunnen von lebendigem Wasser, fähig, das Licht der Lichter anzuziehen. Ein Brunnen, der dem König, der darin zu baden versteht, den Sieg über alle Dinge verleiht
, hieß es in den Texten. Er selbst hatte erlebt, welche Macht es verlieh, sich nicht der Sinnlichkeit des Leibes hinzugeben. Sich beim Geschlechtsakt nicht zu ergießen, sondern stattdessen den ekstatischen Geist auf höhere Sphären zu richten, gleichsam den Schaum durch den Kopf zu katapultieren. Wer diesen Schritt verstand, dem eröffneten sich wahrhaft göttliche Wege.
Mit jeder Initiation war seine Kraft gewachsen, die magischen Riten hatten seine Macht verstärkt. Die Burschen hingegen hatten |317| sich an den Ritualen erfreut, weil sie sich danach an den Opfern vergehen konnten. Alles im Namen der Wissenschaft. Alles, weil sie glaubten, die Medizin mit Hilfe der alten Mysterien zu revolutionieren.
Nur einer hatte sich dem kollektiven Rausch entzogen, hatte die Dinge auf eine Weise betrachtet, die von großer Weisheit zeugte. Der Superior hatte unzählige Buschen gesehen, die für ihn das Leben gegeben hätten. Dieser eine aber, den er als seelenverwandt erkannte und den er als seinen Sohn auserkoren hatte, hatte ihn betrogen und das Einzige an sich gerissen, dessen Besitz er seit Jahrzehnten ersehnt hatte: die Rezeptur, den Schlüssel zu jener Tür, die ihnen bislang verschlossen war.
Es wäre beinahe schiefgegangen. Doch dann hatte der Verräter eine Strafe erhalten, die größere Qualen verhieß als die Hölle selbst. Nun, nach Jahren der Folter, war seine Seele endlich gebrochen. Er würde der Macht nicht länger widerstehen können und sie zu dem Ort führen, wo er sein Wissen verborgen hielt.
Der Superior lehnte sich zurück, lachte grollend und lauschte dem Ton,
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