Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
Ihr Vorgehen erklärten. Immerhin ist es mein Bruder, den Sie zu behandeln gedenken, und, ohne Sie kränken zu wollen, nicht jeder Arzt weiß, was er tut«, sagte Helene und stellte sich vor dem Bett auf. Er mochte ja ein begnadeter Arzt und Wissenschaftler sein, aber von Letzterem hatte sie genug, und sie würde ihren Bruder notfalls als Irren mit nach Hause nehmen, wenn dieser Herr Doktor sich dazu entschließen sollte, dem Wahnsinn mit Gift zu begegnen. »Und bevor Sie mir vorwerfen wollen, nichts von der Materie zu verstehen, so sollten Sie wissen, dass ich schon als Kind in die Arbeit meines Vaters, eines Apothekers, eingeweiht wurde.«
Hahnemanns vormals gerunzelte Stirn begann sich zu glätten. Er lächelte. »Nun, diesen Einwand muss ich wohl gelten lassen. Es |363| mag die Gefahr bestehen, dass es sich hierbei um eine mit anderen Pilzen verunreinigte Probe handelt. Doch keine Sorge, ich weiß, was ich tue, und werde Albert nichts geben, was nicht vorab aufs Genaueste geprüft wurde.« Er strich die Stücke wieder zurück in den Beutel und erklärte, er werde die getrockneten Teile nun mit dem Reibeisen pulverisieren und zur Einnahme vorbereiten. »Ich habe dem großen Plinius noch niemals zustimmen können. Selbst in mittlerer Dosierung hat sich der Fliegenpilz weder in eigener Probe noch in irgendeiner der mir bekannten Arzneilehren als tödlich erwiesen. Ganz im Gegenteil, er scheint bei Fallsucht und Zittern der Glieder heilsam.«
In diesem Moment setzte Albert sich in einer raschen Bewegung auf und sprang aus dem Bett, wobei er mit seinem Nachthemd an einem der Bettpfosten hängen blieb und den Nachttopf beträchtlich ins Schwanken brachte. Er wäre gestürzt, hätte Hahnemann ihn nicht aufgefangen. Es gab einen furchtbaren Lärm, so dass Caspar, der bereits am frühen Morgen seinen Platz vor der Kammer eingenommen hatte, den Kopf zur Tür hereinstreckte, jedoch umgehend wieder verschwand, als er die Lage überblickte. Albert ließ sich zum Stuhl am Fenster geleiten, seine Muskeln zuckten nun stärker. Die Sonne war inzwischen um das Haus gewandert, er reckte seinen Kopf der schattigen Kühle und dem sanften Wind entgegen und begann erneut zu murmeln.
Hahnemann beobachtete ihn und bedeutete Helene, es ihm gleichzutun. »Sehen Sie sich Ihren Bruder an«, sagte er flüsternd. »Welche Symptome sind Ihnen aufgefallen?«
»Er ist sehr unruhig, schlägt um sich oder schreckt mit ungeheuerlicher Kraft auf. Gleichzeitig ermüdet er rasch und vermag über Stunden zu schlafen. In seinem Delirium sieht er Menschen, er fabuliert, und seine Muskeln zucken eigentümlich.«
Er nickte anerkennend. »Und nun erzählen Sie mir etwas zu den Giftwirkungen des Pilzes.«
»Sie lässt den Vergifteten in ein Delirium fallen, die Muskeln zucken …« Sie vollendete die Symptome in Gedanken und sah ihn mit großen Augen an.
|364| »Ich sehe, Sie haben verstanden. Ebenjene Symptome, die die Substanzen hervorrufen, wenn sie in zu hoher Dosis eingenommen werden, vermögen sie auch zu heilen. Und wenn es stimmt, was ich vermute, dann steht uns die ganze Herrlichkeit der Natur, alles, was Gott je erschaffen hat, Pflanzen, Steine, ja vielleicht auch Tiere, mit ihrer unermesslichen Heilkraft zur Verfügung und wir werden in ihr lesen können wie in einem offenem Buch. Alle Heilwirkungen, die uns bislang über Jahrhunderte weitergetragen wurden, aus Klosterapotheken oder von Heilkundigen, die wir aber nie zu erklären vermochten, sind damit mehr als bloße Vermutung. Sie folgen einem Naturgesetz, und wir können es beweisen!« Seine Stimme bekam einen beinahe schwärmerischen Ton. »Den medizinischen Unsinn hingegen, der beständig weitergegeben wird, können wir nun endgültig ausmerzen, ohne uns in haltlosen Diskussionen aufzureiben. Warum wirkt die Chinarinde beim Wechselfieber? Weil sie bei erhöhter Einnahme ebendieses in abgeschwächter Form hervorruft. Warum wirkt das Quecksilber bei der Syphilis? Weil sich bei der verstärkten Einnahme dem ähnliche Geschwüre bilden. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Ähnliches kann nur Ähnlichem helfen. Alles, was die Ärzte tun müssen, ist, die Substanzen am eigenen Leibe zu probieren und dann die Symptome der künstlich erzeugten Krankheit aufzuschreiben. Nur so werden wir erfahren, gegen welche Erkrankungen das Arzneimittel wirklich hilft.« Seine Augen leuchteten. »Gemeinsam werden wir ein Kompendium zusammentragen, das endlich Klarheit schafft, und alle nachfolgenden
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