Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
riss ihn aus den Gedanken. Die Pferde hasteten voran, zerrten die Kutsche über unebenes Gelände. Hufeland wurde unsanft zur Seite geschleudert, von vorn erklang lautes Fluchen. Er hielt sich mit einer Hand am ledernen Hängeriemen fest, während er mit der anderen den Brief fest umklammerte.
Ob sie inzwischen geheiratet hatte und selbst Mutter geworden war? Gewiss, denn sie war eine schöne und kluge Frau und würde sich vor Verehrern nicht retten können. Wie oft hatte er sich gefragt, |426| ob es richtig gewesen war, sie gehen zu lassen, doch seine Kinder vertrieben die trüben Gedanken und waren ihm Halt, besonders nachdem er Juliane mit Bischoff in vertrauter Umarmung ertappt hatte. Der Brief war das Einzige, was ihm von Helene geblieben war. Er hatte ihr nie geantwortet.
Zu Hahnemann indes war der Kontakt auch über die Jahre nicht abgerissen. Er war einer der besten Ärzte dieser Zeit, und Hufeland bewunderte seinen großen Forschergeist. Doch leider hatte er mit der Zeit einen Starrsinn entwickelt, der seiner Heilkunst nicht zuträglich war. Zu sehr beäugte man die Verdünnung der Arzneimittel und die immer geringer werdenden Gaben, warum vertrat er seine Lehre nicht, indem er sie ruhig erklärte, statt um sich zu beißen? Mussten fachliche Differenzen, die Gegensätze der Lehrmeinungen in derart scharfer Weise in aller Öffentlichkeit ausgefochten werden? Und welchen Nutzen hatte es, kategorisch alle anderen Richtungen auszuschließen?
Der Erfolg war unbestritten und gab ihm recht. Der Einsatz der verdünnten Tollkirsche hatte gegen das Scharlachfieber beste Resultate gezeigt. Hahnemanns Lehre war eine der wirksamsten, und man musste sie unvoreingenommen betrachten, fördern und in die Welt hinaustragen. Wenn er selbst mit den Veröffentlichungen im Journal das Seine dazu tat, so deshalb, weil er deren Kraft und Hahnemanns Methodik zu schätzen gelernt hatte.
Die Kutsche bog nach rechts, weiter landeinwärts. Heftige Sturmböen jagten hinter dem Wagen her, als wollten sie ihn in die Stadt treiben. Hufeland blies in seine Hände und wärmte sie mit seinem Atem. Die Decke tat ihren Nutzen, doch der Stoff allein reichte nicht gegen die Kälte, die den ganzen Körper durchdrang, bis auf sein Herz, in das sich eine kleine Flamme geschlichen hatte.
Es hatte zwei Tage gedauert, das Fieber des Prinzen zu senken. Am Abend hatte sich Hufeland an den Sekretär gesetzt und endlich begonnen, einen Brief an Helene zu schreiben, worin er seine Gefühle erklärte und sie bat, ihm einen neuen Anfang zu gewähren, sollte ihr Herz noch frei sein. Immer wieder hielt er inne und verwarf |427| das Geschriebene. Ihre Liebe hatte nur wenige Wochen gedauert. Würde das ausreichen, die Verbundenheit nach Jahren der Stille wieder heraufzubeschwören und noch einmal ganz von vorn anzufangen? Erst als die Nacht kam, war er zufrieden und schob das Blatt in einen Umschlag.
Am Morgen des dritten Tages brach die Sonne durch und beleuchtete die Dächer der Stadt. Hufeland öffnete das Fenster. Schneegeruch lag in der Luft.
Vor ihm lagen die Häuser der Altstadt, der Dom und die Gebäude der Universität und dahinter der Fluss. Masten und Segel ragten über die Dächer, am Himmel zogen Möwen ihre Kreise.
Ihn durchfuhr ein leiser Schauer, als sich sein Blick in den Gassen verfing. Irgendwo dort, unweit des Schlosses, musste sich Helenes Kaffeehaus befinden.
Er zog seine beste Jacke über, strich sich durchs Haar, in dem sich die ersten silbergrauen Strähnen zeigten. Es war kürzer als damals, an der Stirn etwas lichter, und er fragte sich, ob sie ihn wohl gleich erkennen würde. Doch er tat diese Überlegung als töricht ab.
Mit gemäßigten Schritten verließ er die Anhöhe des Schlosses. Je weiter er sich der Altstadt näherte, desto belebter wurden die Gassen. Einige Spaziergänger flanierten über die Brücke, eingehüllt in warme Pelze. An vielen Orten standen Bürger in Grüppchen zusammen, laut debattierend. Als er an den ersten Geschäften vorbeikam, an Gasthäusern, einem Schneider und einem Uhrmacher, bemerkte er, dass einige ihre Läden verschlossen hatten. Königsberg bereitete sich auf die Ankunft der Franzosen vor.
Er beschleunigte seine Schritte. Schließlich hatte er die Orientierung verloren und musste innehalten und sich nach dem Weg erkundigen. Er fragte einen Mann mit einer Drehorgel, der ihn höflich anlächelte. »Kennen Sie das Kaffeehaus von Helene Vogt?«
»O ja, das Marzipankonfekt ist das beste
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