Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
Lebenswerk vollendet. »Setz dich zu mir. Ich möchte noch ein wenig die Abendsonne genießen, bevor die Nacht hereinbricht.«
Helene nahm neben ihm auf der Bank Platz. Hufeland legte den Arm um ihre Schultern, fühlte die Wärme ihres Körpers und spürte tiefe Dankbarkeit. Er hatte immer geglaubt, dass auf jenem sonnigen Tag, an dem er sie zur Frau genommen hatte, ein Zauber gelegen haben müsse, denn seitdem war sein Leben endlich erfüllt.
Dabei hatte es bei ihrem Wiedersehen nicht danach ausgesehen, als würden sie ihr gemeinsames Glück genießen können. Der Krieg hatte sie im eisigen Winter weiter bis an die Memel getrieben. Erst im Sommer, nachdem die Königin bei Napoleon vorgesprochen hatte, war der Frieden von Tilsit unterzeichnet worden, und sie hatten nach Königsberg zurückkehren können, wo Albert nun das Kaffeehaus mit großem Erfolg weiterführte. Mit Hilfe seiner |434| Frau, die er von der Memel mitgebracht hatte, und den zwei Kindern.
Doch nicht nur der Krieg selbst, auch Juliane hatte ihm noch viel Kummer bereitet. Sie war ihm nach Königsberg nachgereist, noch bevor die französischen Truppen die Stadt erreichten, und erst nach einer furchtbaren Auseinandersetzung hatte sie einer Scheidung zugestimmt und ihm die vier ältesten Kinder dagelassen. Danach war sie sogleich zu Bischoff zurückgekehrt, hatte die Geburt ihres Sohnes Theodor aber lange verheimlicht, um zu vermeiden, dass man über dessen uneheliche Zeugung munkelte. Erst zwei Jahre später hatte der jüngere Bischoff sie zur Frau genommen.
Hufeland atmete die warme Luft ein, in die sich der immer kühler werdende Abendwind mischte. Der Duft der Rosen wehte zu ihnen hinüber, ein leises Summen lag in der Luft.
Unvermittelt musste er an seinen alten Weggefährten Hahnemann denken, zu dem er seit einem großen Streit vor fünf Jahren keinerlei Kontakt mehr hatte. Er seufzte leise.
Helene nahm seine Hand. »Woran denkst du?«, fragte sie.
»Ich denke an unseren Freund Hahnemann.«
»Es bedrückt dich noch immer.«
»Nein, aber es bringt mich zum Nachdenken.«
»Gibst du ihm etwa recht?«
»Ja, vielleicht. Aber nicht nur.«
Das Leben des Doktors war stürmisch verlaufen, bis er sich schließlich vor zehn Jahren in Köthen niedergelassen hatte. Mit Spannung hatte Hufeland verfolgt, wie Hahnemann den Weg bereitet hatte, die Worte der Rezeptur umzusetzen und das göttliche Licht mit der irdischen Materie zu vereinen. Seine Kunst hatte sich damit vervollkommnet. Nun grenzten die von ihm vollbrachten Heilungen ans Unglaubliche, in Jena offenbarte sich Goethe als einer seiner größten Anhänger. Doch die Potenzierung wurde in der medizinischen Welt gleichsam gefeiert und verspottet, und Hahnemann reagierte mit polemischem Geschrei. Allen Angriffen begegnete er mit einer Flut von Schmähungen gegen die alte Medizin und ihre Anhänger wie ein Don Quijote der Heilkunst. Zuletzt |435| hatte er auch ihn, Hufeland, von sich gewiesen, nannte ihn einen Judas, ein Zwittergeschöpf, das mit den üblen Verleumdern in dasselbe Horn blies, nur weil er bei seinem öffentlichen Aufruf zur vorurteilsfreien Betrachtung der Homöopathie betonte, dass sie eine von vielen Methoden war.
Hufeland blickte in die Röte der Sonne, die langsam hinter den Wipfeln der Bäume verschwand. »Vielleicht hat Hahnemann recht gehabt, als er von den Menschen verlangte, die Homöopathie als eine gottgewollte Heilmethode zu sehen«, sagte er leise. »Aber durfte er dabei die anderen ebenfalls heilbringenden verdammen? Ist es nicht Gott selbst, der die Vielfalt in seiner großen Natur unter Beweis stellt? Und war es nicht jene Ausschließlichkeit, die die Menschen über Jahrhunderte am eigenständigen Denken hinderte?«
Manchmal, so dachte Hufeland, während sich das Rot des Himmels in ein sanftes Violett verfärbte, brauchte man im Ringen um die Wahrheit mehr als nur einen Rebellen, der es wagte, die Menschen zu entflammen, denn nur sie vermochten das Wissen voranzutreiben. Die
eine
Wahrheit aber würden sie niemals finden, denn um diese wusste Gott allein.
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Das große Experiment, was seit Jahrtausenden die Menschheit mit sich selbst anstellt – Medizin genannt –, ist noch nicht zu Ende, wird wohl auch, wie alles irdische, nie vollkommen zu Ende gebracht werden. Denn es ist ein Experiment, dem höchsten Geheimnis der Natur, dem Leben, auf den Grund zu kommen.
Die Zeit wird richten. Bis dahin wollen wir fortfahren, unparteiisch zu prüfen, uns mehr an die
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