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Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Koschyk
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Philosoph sei er, auf Bildungsreise. Von der Memel über Königsberg und Berlin, über die Alpen nach Italien, in das Land, in dem die Zitronen wuchsen, Ölbäume voller Oliven hingen und Forellen in riesigen Seen schwammen, mehr als fünfzig Pfund schwer. Sie hatten sich angeregt über Dinge unterhalten, von denen Helene noch nie gehört hatte. Vom Unterschied zwischen vernunftbegabt |54| und vernunftfähig oder über die mechanische Ente des Herrn Vaucanson, mit der erstmals innere Vorgänge der Lebewesen wie etwa die Verdauung imitiert wurden. Nun aber, als sie sich den Neuerungen der Literatur zuwandten, umwölkte sich Augustes Stirn und ihre Oberlippe kräuselte sich in unverkennbarem Zorn.
    »Das ist übelster Schmutz«, zischte sie laut. »Und ich bin der festen Überzeugung, es ist das Werk Lessings, dieses Gotteslästerers! Er versteckt sich hinter den Schriften des Ungenannten, zumindest fördert er sie in einem Maße, das nicht toleriert werden kann.«
    »Das ist gar nicht das Sujet«, ereiferte sich Herr Stobbe mit hochgezogener Braue und kontrolliertem Ausdruck. »Von wem auch immer diese Schrift sein mag, sie zeigt Mut zur Wahrheit. Spricht Dinge aus, die wir schon immer dachten und nicht laut zu sagen wagten. Die Heilige Schrift ist voller Ungereimtheiten, die jedem denkenden Menschen bitter aufstoßen müssen.«
    »Unterstehen Sie sich, die Bibel anzuzweifeln!« Augustes Zischen war nun zu einem Zetern angeschwollen.
    »Und wie«, echauffierte sich nun auch Stobbe, »wie erklären Sie sich die Behauptung, es sei möglich, das israelische Volk, darunter auch Frauen, Kinder und Greise, könne innerhalb weniger Stunden mitsamt allem Hab und Gut und dazu noch Viehherden durch das Rote Meer ziehen? Ungeachtet der wohl erlaubten Frage, wie selbst der Herrgott das Wasser hatte teilen können? Nein, ich lasse mir von niemandem mehr theologische Vorschriften machen. Wir sollten es den Neuerern gleichtun, die sich auf den moralischen Gehalt der Bibel stützen und deren Geschichten auf der metaphorischen Ebene zu verstehen suchen. ›Der Buchstabe ist nicht der Geist; und die Bibel ist nicht die Religion.‹«
    »Das ist Blasphemie!« Auguste sprang auf, bis die Kutsche erneut schlingerte und sie zurück in den Sitz warf. »Niemand kann ungestraft die Heilige Schrift angreifen, ohne die göttlichen Offenbarungen anzuzweifeln und damit das Grundgerüst des Christentums!«
    Der Philosoph beugte sich lächelnd vor, offensichtlich berauscht vom Anschein geistiger Überlegenheit. »Werte Dame, glauben Sie |55| mir, ich habe höchste Hochachtung vor Ihrem Geschlecht und Alter, aber das Denken sollten Sie den Gelehrten überlassen, die wissen, wovon sie sprechen.«
    Doch mit dem, was nun kam, hatte er nicht gerechnet. Auguste griff ein Buch, das sie wohl zur Erbauung gedacht hatte, und drosch auf den erschrockenen Philosophen ein, bis der schmächtige Russe in das Geschehen eingriff, ihren Arm mit ungeahnter Kraft umfasste und ihn wortlos nach unten bog.
    Herr Stobbe senkte die schützend vors Gesicht gehaltenen Hände, besah die sich rasch rötlich färbenden Stellen auf Fingern und Arm und schwieg fortan, ohne Auguste eines weiteren Blickes zu würdigen.
    Helene hatte den Vorfall atemlos und mit zunehmender Beklemmung verfolgt, nun holte sie tief Luft, doch ohne Erleichterung. Sie sollte sich in Berlin rasch nach einer anderen Stellung umsehen. Mit Auguste von Rückertshofen, das war nun klar, war nicht gut Kirschen essen.
    Die Landschaft wechselte zu sanften Hügeln, Feldern mit Raps und Roggen, hier und da abgeerntete Stoppelacker. Ebereschen mit leuchtend roten Beeren säumten die Wege, der Boden wurde sandiger. Die Pferde mühten sich, die Kutsche voranzuziehen, die Peitsche knallte nun ohne Unterlass.
    Je weiter sie fuhren, desto öfter fragte sich Helene, ob ihr überstürzter Entschluss, ihrem Bruder nach Jena zu folgen, richtig gewesen war. Sie hätte ebenso in die Kurische Nehrung fahren können, dafür hätte das Geld gewiss gereicht. Dort wäre sie dann vielleicht bei Luises Eltern untergekommen oder bei einer benachbarten Familie, und sie hätte bei der Heuernte helfen können oder im Stall bei den Kühen. Helene seufzte, als sie sich an die Schilderungen ihres Hausmädchens erinnerte, die oft von ihrer Heimat erzählt hatte, von der See, den Dünen, den Fischerhäusern und dem Seeadler, der vom Memeldelta herkam und dort seine Kreise zog. Im Frühsommer wäre sie dann nach Königsberg zurückgekehrt, zur

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