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Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Koschyk
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Ansonsten war der Raum leer.
    Leise schlich Helene zur Lampe und trug sie zu einem kleineren Tisch an der Längsseite des Raumes. Mit zitternden Händen tastete sie in der klammen Tasche nach dem Brief, zog ihn hervor und sah ihre Ahnung bestätigt: Die Schrift war unverkennbar die ihres Bruders Albert. Sie las langsam, die Buchstaben entziffernd und mühsam zu Worten formend.
     
    Lieber Vater,
    ich schreibe Ihnen in Dringlichkeit, mit dem sicheren Gefühl, aufgeflogen zu sein, denn ich wurde beobachtet. Nun treibt mich die Furcht, da ich Zeuge, nein, Teil einer Tat war, die niemals hätte begangen werden sollen.
    Lassen Sie mich fort, zurück in die Heimat, zurück nach Königsberg! Dort kann ich das Studium ungestört beenden und bin doch in Ihrer Nähe, in der Nähe der geliebten Familie. Bitte, geben Sie mir die Erlaubnis, ich bitte Sie inständig.
    Das Gesuchte habe ich hier gefunden, in diesem Moment, in dem ich diese Zeilen schreibe, halte ich es in den Händen. Mehr ist nicht zu ergründen, daher weisen Sie mir den Betrag an, der mich zurückbringt! Ich habe alles verloren in gutem Glauben an unsere Sache.
     
    Es war Helene, als legte sich eine eiskalte Klaue um ihr Herz. Hastig überflog sie den Brief, er war auf den 8. September datiert. Vater musste ihn gerade erst erhalten haben, hatte er darauf geantwortet? War Albert bereits auf dem Weg zurück nach Königsberg, nun, da sie sich auf den Weg zu ihm machte?
    |61| Sie rechnete nach. Eine Geldanweisung dauerte lange, gewiss mehrere Wochen. Wenn sie sich beeilte, kam sie noch rechtzeitig. Aber wozu? Um mit ihm zurückzureisen, fehlte das Geld. Dass er Jena verlassen wollte, war offensichtlich, jede Zeile zeugte von seiner Furcht. Was hatte er getan, was war es für eine Tat, von der er schrieb, und was war das Gesuchte?
    Helene war ihr Bruder immer furchtlos erschienen, gottgefällig, sicher in seinem Tun. Als er nach Jena gegangen war, hatte sie heftig geweint. »Warum musst du nach Jena? Königsberg hat eine ausgezeichnete Universität, alle großen Ärzte Preußens haben hier gelernt!«
    Er hatte sie fest in den Arm genommen. »Du wirst sehen, ich komme als großer Arzt zurück, bewandert in der menschlichen Anatomie. Nicht so wie all die Schwärmer und Träumer, die sich hier bei Kant im Philosophischen verlieren und sich mehr um den menschlichen Geist kümmern als um seinen Körper.«
    Warum nur drängte er jetzt darauf, sein Studium in Königsberg zu beenden? Eine furchtbare Unruhe trieb Helene wieder hinaus. Der Regen hatte nachgelassen. Sie spürte nicht den Morast, blickte zum Himmel, an dem sich die Wolken verzogen und dem Licht des Mondes Platz machten.
    Bislang hatte sie geglaubt, es wäre Alberts Wunsch gewesen, nach Jena zu gehen, da die dortige medizinische Fakultät über mehr Präparate und darüber hinaus über Gerätschaften verfügte, mit denen man die Impulse der menschlichen Nerven messen konnte. Der Brief aber vermittelte den Eindruck, er sei auf Anweisung des Vaters gegangen. Als hätte der Vater ihn geschickt, etwas zu suchen, das ihn nun in Gefahr gebracht hatte.
    Sie seufzte, strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht. Sollte sie nach Königsberg zurückkehren? Was aber, wenn der Vater ihn nicht gehen ließ, Albert per Brief gemahnt hatte, mannhaft zu bleiben und sein Studium zu Ende zu bringen?
    »Herr, hilf«, flüsterte sie und sah in das Licht des immer klarer werdenden Mondes. Doch so sehr sie eine Lösung ersehnte, sie erhielt keine Antwort.

|62| 3
HETTSTEDT
29. SEPTEMBER 1780
    Über den Hügeln lag Nebel, der sich in dichten Schwaden über den Boden ergoss. Vorwitzige Spatzen flogen umher und sangen ihr Morgenlied.
    Christian Friedrich Samuel Hahnemann beugte seinen Rumpf vor, streckte die Arme zu Boden und ließ seinen Körper auf- und abwippen, immer den Zehen entgegen. Dann stemmte er die Hände in die Hüfte, dehnte sich zu beiden Seiten und sog dabei die dunstige Morgenluft tief ein.
    Sein Körper hatte an Beweglichkeit zugenommen. Nun, im Alter von fünfundzwanzig Jahren, war er kräftiger als jene Kommilitonen, die ihn wegen seiner Schwächlichkeit verlacht hatten.
    Er sah in die Ferne, wo die Nebelschwaden mit dem Horizont verschmolzen. Der Herbst eilte mit großen Schritten näher. Mit ihm kamen die Krankheiten. Die Ruhr, das Fleckfieber und das katarrhalische Faulfieber.
    Erst gestern hatte er einen Tagelöhner besucht, der mit Ruhr auf seinem schmutzigen Lager lag. Große körperliche Anstrengungen während

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