Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Koschyk
Vom Netzwerk:
selben Zeit wie ihr Bruder, und alles hätte sich zum Guten gewendet. Es war noch nicht zu spät. An der nächsten Poststation |56| würde sie ihrer neuen Herrin von ihren Nöten erzählen und sie zur Herausgabe des Passes auffordern.
    Endlich erreichten sie die erste Poststation in Brandenburg am Haff, sogleich wurden die Pferde gewechselt, und ein Stellmacher überprüfte Räder und Achse. Auguste von Rückertshofen und das Ehepaar eilten in die Gaststube, während die anderen Fahrgäste, der Philosoph und der schmale Russe, die Dünen hinaufgingen, die einen Blick auf das weite Meer gestatteten. Unschlüssig sah Helene zur Gaststube. Sie hatte Hunger, doch ihre Herrin hatte ihr keinen Wink gegeben, sie zu begleiten. So wandte sie sich um und folgte den anderen zum Meer.
    Der Anblick der stürmischen See war überwältigend. Hohe Wellen schlugen an den Strand und leckten mit gierigen Zungen an Sand, Gras und Ufer. Der dunkle Himmel schien endlos, tiefschwarze Wolken ballten sich zusammen, in der Ferne ertönte ein Grollen. Helene atmete tief ein, ließ die reine Luft in ihre Lungen strömen, schmeckte das Salz. Sie sehnte sich nach ihrem Bruder, der ihr immer Schutz und Zuneigung gab, alles in ihr drängte danach, ihn so bald wie möglich in die Arme zu schließen. Doch würde sie ihn auf diesem Weg erreichen? Würde Auguste sie gehen lassen? Seit Beginn der Fahrt hatte diese sie nicht mehr beachtet. Noch könnte sie fort.
    Jetzt gleich, dachte sie, während sie sich umdrehte und wieder zur Poststation zurückging, jetzt musst du sie fragen, dann kannst du zurück, notfalls auch zu Fuß, dem aufziehenden Unwetter trotzend. In diesem Moment aber trat Auguste aus der Tür und rief laut nach dem Postillion: »Wir sollten besser rasch weiterfahren. Oder sollen wir etwa hier an diesem grässlichen Ort nächtigen, wo man verdorbene Aalsuppe reicht und allen Gästen gemeinsam einen einzigen Löffel anbietet?«
    Die ersten Tropfen fielen, und noch bevor sich Helene zu ihrer Frage durchgerungen hatte, ging die Fahrt weiter.
    Seit dem Vorfall mit dem jungen Philosophen unterhielt man sich nur noch über unverfängliche Themen, leise, fast flüsternd. Der Regen war wie ein beständiger Schleier, untermalte die Unterhaltung mit leisem Rauschen.
    |57| Helene fügte sich in ihr Schicksal, döste vor sich hin, schrak auf, als die Kutsche heftig schwankte, und schloss erneut die Augen.
    Der Regen nahm zu, spülte Sand von den Wegen, prasselte hart auf das Kutschendach. Immer öfter drohte die Kutsche zu kippen, das Wasser lief in Sturzbächen vom Wagendach, tropfte durch Risse im Verdeck ins Wageninnere.
    Einmal war die Kutsche kurz davor zu versinken, die Männer wurden dazu angehalten, den Wagen anzuschieben. Sie stöhnten und scherzten, dass bei diesem Wetter zumindest die Räuberbanden fernblieben. Durchnässt und mit dunklem Matsch von den Schuhen bis über die Knie stiegen sie nach erfolgreichem Tun in den engen Wagen und verbreiteten den strengen Geruch schwerer körperlicher Arbeit und dampfender Nässe, so dass sich die Frau des Uhrmachers dazu genötigt fand, ihren Kopf aus dem Fenster zu halten, um ihrem plötzlichen Unwohlsein Ausdruck zu verleihen.
    Das Ruckeln der Kutsche nahm unterdessen zu, sie hatte den Weg verlassen, nun schlingerte sie über das durchweichte Gras. Auguste von Rückertshofen sah aus dem Fenster. Ihr Gesicht hatte ein ungesundes Grau angenommen, mit zusammengepressten Lippen starrte sie in die Landschaft.
    Dann, endlich, als der Blick nach draußen nur noch tiefe Schwärze zeigte und die verschlammten Wege jedes Weiterkommen unmöglich zu machen schienen, hielt die Kutsche in Hoppenbruch. Der Postillion öffnete die Tür, um die Fahrgäste zu entlassen. Er fluchte laut und unflätig, denn er hatte bis nach Braunsberg kommen sollen, aber der Regen hatte seine Pläne durchkreuzt.
    »Es nützt ja nichts«, sagte der Philosoph und reckte sich in respektvollem Abstand von Auguste. »Man muss die Dinge so nehmen, wie sie kommen. Auch das ist Teil des Abenteuers, das ich begonnen habe, um die Realität kennenzulernen, die Welt, wie sie wirklich ist.« Damit zog er Schuh und Strümpfe von den Füßen und stapfte in Richtung des Gasthofs, der in der dunklen Nacht heimelig leuchtete. Auguste ließ sich mit pekuniärem Nachdruck unter dem Schutze der Jacke des Postillions geleiten, ohne Helene eines Blickes zu würdigen.
    |58| Am Eingang des Gasthofes stand der Wirt mit tellergroßen Händen, die er sogleich

Weitere Kostenlose Bücher