Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
Schlimmste aller Übel aber war die Unvernunft der Menschen, dachte er und griff nach seinem in dunklem Leder gebundenen Schreibbuch.
Da das Kupfer,
notierte er,
eine in der kleinsten Menge schon so heftig wirkende Substanz ist, in größerer Menge aber in den Körper gebracht die gefährlichsten und tödlichsten Zufälle erregt, so sieht man leicht, wie behutsam sein Gebrauch zu Kochgeschirren eingerichtet werden müsste.
Dann machte er sich an die Übersetzung des ersten Bandes von Herrn Demachys
Laborant im Großen
.
Gegen Mittag sah er von seinen Aufzeichnungen auf. Bereits den ersten Teil hatte er mit allerlei Randnotizen und Fußnoten versehen müssen, diese Übersetzung würde ihm noch den Schlaf rauben. Die Haushälterin rief ihn zu Tisch, aber seine Gedanken kreisten weiter um den Text, in dem die Verwendung von grünem Kupferwasser für die Herstellung von Scheidewasser empfohlen wurde, das imstande war, Silber von Gold zu trennen.
Die Steckrübensuppe war fad und das Brot alt, aber was sollte man sich ärgern, das Geld reichte nicht für ein Festmahl.
Nach dem Essen legte er sich hin, doch er fand keinen Schlaf. Er dachte an den Vormittag und an das furchtbare Gefühl, an Grenzen zu stoßen, ohne sie durchbrechen zu können. Ein Gefühl, das sich immer öfter einstellte, obgleich er alles über die Anatomie des Menschen, über die Heilkraft der Natur und sämtliche bekannten alchemistischen Prozesse zu wissen glaubte.
|68| Hahnemann stand wieder auf und ging in den Raum, in dem er die Patienten zu empfangen pflegte. Der breite Stuhl war bequem, er sank hinein und schloss die Augen.
In den zwei Jahren, in denen er als Aufseher der ansehnlichen Bibliothek des Baron von Brukenthal, des höchsten Repräsentanten des Kaisers in Hermannstadt, sämtliche Werke katalogisierte, hatte er Einblick in unzählige medizinische Werke genommen, weit über die Bestände der Universitäten hinaus. Er hatte alle Abhandlungen über die Lehre des Pulses gelesen, die sich auf vierundvierzig Schriften beliefen, und nebenher John Balls umfangreiches Werk »Neuere Heilkunst oder vollständige Anweisung die Kranken vernunftmäßig zu behandeln« unter dem Pseudonym »C. H. Spohr« übersetzt. Und dennoch hatte er das Gefühl, nicht alles zu wissen, was ein Arzt wissen musste.
Er war auf der Suche nach Kenntnissen, von denen er immer geglaubt hatte, dass man sie sich auch ohne den groß in Mode gekommenen mystischen Mumpitz erschließen könne. Allein die Wissenschaft und die Kraft des Geistes würden dem Menschen helfen, Krankheiten erfolgreich zu behandeln. An die Existenz eines Rezeptes für ein Lebenselixier, jenes universelle Allheilmittel, von dem der Baron von Brukenthal, ja selbst die Gelehrten der dortigen Loge hinter vorgehaltener Hand erzählten, hatte er nie geglaubt. Doch dann hatte er diese eigentümliche Schrift gelesen …
Es klopfte an der Zimmertür. Erst zaghaft, dann forsch.
Draußen ballten sich dunkle Wolken zusammen. Der Raum lag in einem trüben Halbdunkel. Schwerfällig stand Hahnemann auf, entzündete die Öllampe und öffnete die Tür. Vor ihm stand seine Haushälterin Agnes.
»Was gibt’s?«, fragte er barsch, er schätzte es nicht, während der Mittagsruhe gestört zu werden.
»Mein Zahn!«, sagte sie und hielt sich die Wange.
»Das kann bis zum Abend warten.« Hahnemann holte seine Taschenuhr hervor. Gleich zwei Uhr.
»Es warten keine Patienten, Herr Doktor, bitte, können Sie wieder Ihre Hände …«
|69| Keine Patienten, so ging es an vielen Tagen, wo sollte das hinführen?
Er blickte in ihr leidendes Gesicht. »Setzen Sie sich«, sagte er schließlich und führte sie zum Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches. »Und nun sehen Sie in das Licht der Lampe.«
Sie tat, wie ihr geheißen, lehnte sich zurück, und augenblicklich schienen ihre Gesichtszüge zu erschlaffen. Sie schloss die Augen. Hahnemann zügelte seinen Atem, bis er gleichmäßig ging, dann rieb er seine Hände aneinander und führte sie mit ausladenden Bewegungen nahe an ihren Kopf. Er fühlte die magnetische Energie, das Kribbeln. Je näher seine Hände dem Gesicht kamen, desto stärker spürte er die Anziehungskraft der Masse, die Gravitation, die einst von Newton beschrieben wurde. Dann legte er eine Hand auf die schmerzende Stelle.
Agnes entfuhr ein Seufzen. Plötzlich spannten sich ihre Muskeln wieder, und sie öffnete die Augen: »Es sind doch keine Geister, die Sie beschwören?«, flüsterte
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