Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
der Erntezeit, mitunter in stundenlangem Regen, hatten ihn geschwächt, die übermäßigen Ausschweifungen mit halbgegorenem Bier und Branntwein hatten der Ruhr endgültig den Weg bereitet.
Als Hahnemann die Wohnung betreten hatte, fand er sie feucht und ungelüftet, einem Kerker ähnlich. Der Patient lag unter einer Deckenlast aus Hühnerfedern, die ihn schwitzen ließ und damit auch noch den letzten Körpersaft nahm. Die Luft war erfüllt von dem scharfen Geruch der Ausscheidungen, die nicht mehr gehalten werden konnten und das Bett durchtränkten. Sein Weib war von einem Haufen Kinder umringt, die gleichsam in ihrem Kot saßen.
|63| Eine Nachbarin hatte sich ihrer erbarmt, nun trug auch sie den Samen der Ruhr, bald würde sich die Krankheit zur Epidemie entwickeln und den ganzen Ort einnehmen. Wie nur sollte er es den Menschen begreiflich machen, dass es Reinlichkeit, zweckmäßiger Diät und frischer Luft bedurfte, um die Ausbreitung von Seuchen zu verhindern? Dass man Kinder und Gesunde nicht neben die Kranken legen durfte, und sei der Raum auch noch so eng.
Hahnemann atmete noch einmal die Morgenluft ein und ging zurück zum Haus, in dem er sich seit wenigen Monaten als Arzt verdingte, die erste Stellung nach dem Erlangen der Doktorwürde.
Was wusste man schon von der Natur der ansteckenden Krankheiten, außer dass sie sich verbreiteten? Aber warum sie es taten und weshalb sie manch einen verschonten, bisweilen auch die Schwächlichen, das galt es herauszufinden.
Der Wegweiser aber ist die Natur, dachte er, während er die Tür öffnete, die Natur und die Erfahrung. So, wie es bereits Hippokrates und Aretäus lehrten.
Im Haus erwartete ihn Agnes, seine Haushälterin, mit einem Becher warmer Milch. »Sie haben gestern Abend Ihre Suppe nicht gegessen«, sagte sie vorwurfsvoll und stemmte die Hände in die rundlichen Hüften.
»Ich hatte zu tun«, antwortete er knapp, setzte sich an den Schreibtisch und wartete darauf, dass sie ging.
»Sie sind viel zu jung für diese Ernsthaftigkeit«, sagte Agnes mit einem mütterlichen Unterton. »Sie verderben sich die Augen, wenn Sie des Nachts über den Büchern sitzen! So wie Pfarrer Ebers, der selbst mit Brille schlechter sieht als ein Maulwurf. Ist Ihnen aufgefallen, wie nah er am Sonntag die Nase vor das Gebetbuch hielt?«
Hahnemann antwortete nicht. Er öffnete sein Patientenbuch und trug die Ereignisse des vergangenen Tages ein. Doch sie fuhr fort zu erzählen, lachte sogar kokett und wippte dabei mit den Hüften.
Sie belästigt mich mit Nebensächlichkeiten, dachte er verärgert. Hatte er es sich während des Studiums zur Regel gemacht, |64| schlechte Bücher wie auch Vorträge zu meiden, so saß er nun gefangen. Lauschte unwillig den Berichten von Querelen und Anfeindungen der Nachbarn. Vernahm, wie wichtig es doch sei, sich mit der Bäckersfrau zu vertragen, die imstande sei, den gesamten Ort auf einen zu hetzen, während seine Gedanken zu den Übersetzungen wanderten, die er noch zu machen hatte, um seinen geringen Lebensunterhalt aufzubessern.
Erst als Frau Fließbach eintrat, die Frau eines Arbeiters aus dem Kupferbergwerk, deren Mann nachts vor Krämpfen nicht schlafen konnte, wurde Agnes’ Redefluss gestoppt, und sie empfahl sich bis zum Mittag.
»Es ist sehr schlimm, Herr Doktor«, sagte Frau Fließbach, nachdem sie von dem Befinden ihres Gatten berichtet hatte, das trotz kostspieliger Medikamente unverändert war, und wippte den Weidenkorb zu ihren Füßen, in dem ein schlafender Säugling lag. »Gestern Nacht war er so schwach, dass seine eigenen Beine ihn nicht trugen, ich konnte ihn nur mit Mühe stützen.«
Hahnemann horchte auf. »Hat sich seine Gesichtsfarbe verändert?«
»Ja, sie hat einen eigenartigen Ton angenommen, beinahe gelb.«
»Speichelfluss?«
»Ja.«
»Stinkender Schweiß?«
»Auch.« Sie errötete.
Er nickte. Es waren die Symptome einer Kupfervergiftung. Nur warum andere Arbeiter desselben Bergwerks keinerlei Beschwerden entwickelten, war eines der vielen Rätsel, die im Nebel der medizinischen Wissenschaften lagen. »Er wird mit seiner Arbeit im Bergwerk aufhören müssen, um zu gesunden.«
»Aufhören?«, empörte sich die Frau. »Von einem Arzt verlange ich keine dummen Ratschläge, wie soll ich acht Kinder durchbringen mit einem Mann ohne Lohn. Es wird doch Mittel geben, die helfen, irgendeine Medizin! Machen Sie nur weiter so, dann wird bald keiner mehr zu Ihnen kommen.«
Hahnemann hielt inne, zwischen
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