Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
Als sich ihre Blicke trafen, wandte der sich ab.
Einzig Ludwig Gerstel war nirgends zu sehen.
Immer mehr junge Burschen strömten in den Raum, der nicht einen freien Stuhl mehr hatte, bis der Professor mit einem Stab aufs Pult klopfte und die Studenten der anderen Fakultäten wieder hinausschickte.
Endlich wurde es still. So still, dass das Rauschen der Blätter vor dem offenen Fenster zu hören war. Professor Loder ging zum Fenster, schreckte ein paar Burschen auf, die hier auf Zehenspitzen zu lauschen hofften, und schloss es mit einem energischen Ruck. Dann wandte er sich seinen Studenten zu.
»Heute geht es, wie man der ungewohnten Aufmerksamkeit unschwer entnehmen kann, um die Zeugungsteile.«
Professor Loder begann mit anatomischen Beschreibungen des weiblichen Geschlechts und wusste dabei eine erstaunliche Würde |82| zu bewahren. Mehrmals wurde er unterbrochen von leisem Gelächter oder schamlosen Witzen, die der Professor mit raschem Hinauswurf bedachte. So wagte keiner der Anwesenden mehr, eine falsche Bemerkung zu machen, als Loder endlich die Kiste zu seinen Füßen öffnete und das Präparat eines gewaltigen Penis hervorholte. Er war von derart monströser Gestalt, dass man ihn beinahe zu den Kuriositäten zählen musste. Ein verhaltenes Raunen ging durch das Auditorium, während der Professor mit betontem Gleichmut in seinem Vortrag fortfuhr.
Schweikert hatte Hufeland schon von diesem Präparat erzählt, für das der Professor Kopf und Kragen riskiert haben sollte. Aus nicht bekanntem Grund – hatte das Körperteil ein Leiden oder ein medizinisches Problem verursacht, dem Abhilfe geschaffen werden sollte? – hatte er diese Rarität an einem angesehenen Jenaer Bürger »entdeckt« und sich nach dessen Ableben durch Bestechung des Totengräbers Zutritt zum Sarg und eben jenem ansehnlichen Teile verschafft. Dieses Gerücht hielt sich so standhaft, dass auch die Witwe davon erfuhr und auf die Öffnung des Sarges bestand, was ihr allerdings von Totengräber und Stadtrat standhaft verweigert wurde.
Mit dem Fortschreiten des Unterrichts wurde der Professor wieder zugänglicher. Hier und da wurde leise geflüstert, und auch Zwischenfragen ließ er nun wieder zu.
Hufeland, der das Bild des penislosen Toten nicht aus seinem Kopf bekommen wollte, meldete sich zu Wort: »In welchem Zustand befinden sich die Toten, denen man die Teile zur Präparation entnimmt?«
»Sie dürfen nicht älter sein als wenige Tage.«
»Und wie kann man sich sicher sein, dass die Person wahrhaftig tot ist?«
Eine augenblickliche Stille trat ein, jeder schien die Konsequenz dieser Frage im Geiste durchzuspielen. In der hinteren Reihe wurde ein entsetzter Schmerzensschrei imitiert und erntete verhaltenes Gelächter. Professor Loder verschränkte die Arme vor der Brust und sah Hufeland amüsiert an.
»Sie denken an die Legende des berühmten Anatomen Andreas |83| Vesalius, der bei der Öffnung des Leichnams einer spanischen Edelfrau ein schlagendes Herz vorfand.«
Hufeland nickte. »Die Familie bezichtigte ihn des Mordes und lieferte ihn der spanischen Inquisition aus.«
»Ja, Christoph, Sie sprechen einen heiklen Punkt an. Schon der allseits bekannte französische Bader Ambroise Paré warnte davor, den toten Körper in ungebührlicher Eile zu öffnen, und auch der Anatom Jacques-Bénigne Winslow wusste von Fällen zu berichten, in denen Menschen erst auf dem Seziertisch erwachten.«
Hufelands Stimme bebte, als er fortfuhr. »Ist es wahr, dass der Tod oft nur scheinbar eingetreten ist? Ist es dann nicht auch möglich, dass manche Personen lebendig begraben werden?«
»Ich habe gehört, dass sich voreilig Begrabene selbst verzehren«, rief Johann Vogt, der nur wenig von Hufeland entfernt saß. »Immer wieder fand man bei zufälligen Öffnungen von Särgen Leichen mit zernagten Händen und Armen oder mit zerrissenem Gesicht.«
Sein Sitznachbar meldete sich zu Wort. »So wäre es auch beinahe einem ertrunkenen Seemann ergangen, doch er stieß so lange an die Sargwände, bis das Geräusch den Pfarrer dazu brachte, den Sarg auszugraben und zu öffnen. Das Totenhemd triefte vom Blut der Füße, mit denen der Seemann gegen die Sargwand getreten hatte.«
»Ich habe gelesen, man solle leblose Patienten durch das Einführen von Pfeffer in Nase und Mund und durch großzügigen Gebrauch von Peitschen reizen«, rief nun ein anderer. »Helfe das nichts, müsse man die Fußsohlen mit Rasierklingen ritzen oder ihnen zur Wiederbelebung
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