Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
rutschte oben fast ab, zerriss sich seine einzige gute Hose, bevor er sich endlich auf der anderen Seite des Tores zu Boden fallen ließ. Vor ihm erhob sich die alte Johanniskirche, deren Verfall so vorangeschritten war, |86| dass man weiter hinten ein neues, größeres Gotteshaus erbaut hatte. In geduckter Haltung hasteten sie weiter. Ein Gefühl der Demut ergriff Hufeland, als sie ein Denkmal passierten, auf dem eine Figur des Zeitgottes stand, mit Sense und Sanduhr in flatterndem Gewand, daneben die Gestalten des Glaubens und der Hoffnung. War es richtig, was sie hier taten? Sie hatten am Tor des Totengräbers gehämmert, niemand hatte geöffnet. Auch der Pfarrer war nicht zugegen, was hätten sie sonst tun sollen?
Hufeland empfand widerstreitende Gefühle. Sorge, Gewissensangst, Furcht. Doch die Sorge um Albert siegte.
Atemlos liefen sie durch die Grabreihen, vorbei an efeuumrankten Gedenktafeln und Buchsbaumbeeten, mit Rundbögen und Engeln verzierten Steinplatten und verwitterten Grabsteinen. Das Knirschen ihrer Schuhe auf dem steinigen Boden hallte in der Stille.
»Verdammt«, schimpfte Johann Vogt und hielt sich nach Luft schnappend die Seiten. »Der Friedhof ist zu groß!«
Es dämmerte. Die Bäume verloren an Kontur und hüllten den Ort in dunstiges Grau. Hufeland versuchte, nicht an untote Gestalten und Gespenster zu denken, die durch so manche schaurige Geschichte dieser Zeit geisterten, und sah sich unruhig um.
»Du wirst doch keine Angst haben«, spottete Vogt, aber auch ihm stand die Anspannung deutlich ins Gesicht geschrieben.
Hufeland verbiss sich eine Erwiderung und zeigte stattdessen in Richtung Norden. »Sie werden ihn nicht hier neben den wohlhabenden Jenaer Bürgern bestattet haben. Ich habe gehört, dass der Friedhof erweitert wurde, als vor zweihundert Jahren die Pest wütete. Dort hinten, wo die ärmeren Bewohner begraben liegen, sollte auch das Grab eines zugereisten Studenten zu finden sein.«
Vogt nickte. »Du hast recht.«
Sie eilten weiter. Die Dunkelheit nahm zu. Bald schon war es unmöglich, die Inschriften zu lesen. Endlich kamen sie zu einer Stelle mit mehreren frischen Erdhügeln. Doch die feinen ins Holz geritzten Namen hoben sich nicht vom Untergrund ab und konnten nicht entziffert werden.
»Warte hier, ich suche eine Lampe.«
|87| Noch bevor Hufeland protestieren konnte, lief Vogt den Weg zurück in Richtung Kirche.
Schaudernd schlang Hufeland die Arme um den Körper. Er lauschte den sich entfernenden Schritten, dann war es still. Ab und an ein Knacken und Rascheln. Und wieder Stille. Ein Gefühl der Bedrohung heftete sich an seinen Rücken, langsam begann er, sich im Kreise zu drehen, die Dunkelheit hinter den frisch gehäuften Gräbern fixierend. Als Kind hatte er sich im Dunkeln gefürchtet und einen abgeschiedenen Geist im weißen Sterbekleid beständig vor Augen gehabt. Und in diesem Moment, da er sich kreisend inmitten frischer Gräber befand, schien diese Zeit wieder greifbar nah. Allein der Gedanke an Albert Steinhäuser, der in seinem Grab nach Luft rang, hielt ihn an diesem beklemmenden Ort, hinderte ihn daran, wegzurennen, weg von den Toten, zurück in die Stadt, ins Leben.
Endlich hörte er entfernte Schritte, sah schließlich Vogts Silhouette im Schein einer Lampe, einen Spaten schwenkend.
Bald hatten sie Alberts Grab gefunden: einen nackten Erdhaufen, gekennzeichnet mit einem schlichten Holzkreuz. Vogt begann sofort, die lockere Erde mit dem Spaten abzutragen.
Hufeland zögerte, sah sich um, doch als er kein geeignetes Werkzeug fand, hockte er sich zu Vogt auf die kalte Erde und grub mit bloßen Händen.
Eine Weile arbeiteten sie in verbissenem Schweigen. Der Schweiß stand ihnen auf der Stirn, schwarze Schlieren durchzogen ihre Gesichter. Es war Grabschänderei, derer man sie bezichtigen konnte, aber Gott würde es ihnen verzeihen. Es ging um mehr, um das Leben eines Menschen, den Hufeland bis zum Tag des Duells noch nicht einmal gekannt hatte und dessen Schicksal sich in diesem Moment mit dem seinen zu verbinden schien.
»Holz!«, rief Vogt und senkte augenblicklich die Stimme zu einem Flüstern. »Das ist der Sarg.«
Es dauerte nicht lange, bis der Deckel freigelegt war, dunkel und erdverkrustet. Sofort begann Vogt, daran zu rütteln, und als er sich nicht öffnen ließ, schlug er mit dem Spaten so lange gegen den Riegel, bis er mit lautem Krachen nachgab.
|88| Starker Verwesungsgeruch schlug ihnen entgegen. Hufeland wich zurück und presste die
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