Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
und sich schließlich vorgenommen, Ludwig Gerstel dazu zu befragen. Doch als er ihn am nächsten Tag in seinem Zimmer aufsuchte, war er nicht anwesend. Die Bürgersfrau, bei der Gerstel seine Stube hatte, sagte, sie hätte ihn schon seit Tagen nicht mehr gesehen.
Das junge Mädchen hingegen, das Hufeland im Accouchierhaus als Minchen Trautmann erkannt hatte, war eines Abends wieder im elterlichen Hause erschienen, während die Familie mit den studentischen Gästen bei Tisch gesessen hatte. Johann Vogt berichtete, die Mutter habe sie überglücklich und ohne weitere Fragen zu stellen in die Arme geschlossen, während der Vater sie geflissentlich ignorierte. Von einem Neugeborenen erzählte Vogt nichts.
Nach Minchen hatten noch zwei weitere junge Mädchen im Accouchierhaus entbunden, aber Professor Loder erklärte dies mit der steigenden Akzeptanz des Geburtshauses. Früher hätten die Mädchen ihre Bälger, verborgen vor den Augen der Allgemeinheit, im Wald geboren.
Vogt hatte laut darüber gelacht, als Hufeland ihm eines Abends davon erzählte. Das wäre eben der Preis für laue Vergnügungen, sagte er in einem Ton unbekümmerten Frohsinns, und die Mädchen hätten es ja so gewollt, freizügig und kokett, wie sie die Studenten umgarnten. Hufeland hatte ihn scharf angesehen und |80| seinem Misstrauen Luft gemacht. »Hast du das Minchen verführt?«, platzte er heraus.
Vogt starrte ihn an. »Minchen? Wieso das Minchen?« Seine Augen weiteten sich. »Du glaubst …« Er schnappte nach Luft. »Minchen ist noch ein halbes Kind!«
»Lass gut sein«, sagte Hufeland beschwichtigend.
»Nein, das kann ich nicht. Du unterstellst mir, ich würde mich mit Kindern einlassen! Nur weil ich mich ab und an mit schönen Mädchen vergnüge?«
Seine Empörung schien echt. Hufeland entschied, seinen Verdacht, das Minchen sei von Vogt geschwängert worden, fallen zu lassen. »Lass gut sein«, wiederholte er.
Aber Vogt war noch nicht am Ende: »Ach, du bist so ein selbstherrlicher Gockel. Immer überlegt, moralisch und über den Dingen stehend. Das ist doch nicht normal! Hast du je eine Frau angefasst, nein? Ihr über die Schenkel gestrichen, sie geküsst, bis ihr der Saft im Leib aufbrandet? Hast du je die Ekstase sinnlicher Genüsse erlebt? Gewiss nicht. Sonst würdest du mich jetzt nicht so entsetzt ansehen.«
Von diesem Moment an ging Hufeland Vogt aus dem Weg. Er freundete sich mit anderen Studenten an, mit Kotzebue, Schulz und einem gewissen Schweickert, einem stillen, fleißigen Menschen, der mit ihm im selben Hause wohnte. Und er besuchte die Vorlesungen des ersten Theologieprofessors Griesbach, dessen gewagte Betrachtungen der Bibel als einer historischen Quelle sich über die starren Theorien der orthodoxen Frömmler emporschwangen, zu denen Hufeland auch seinen ehemaligen Hauslehrer Restel zählte.
Es war der dritte Oktober, als Hufeland darüber nachdachte, wie rasch sich doch der Schleier der Normalität über das Unglück legte. Die Tage vergingen, wurden kürzer, und schon bald würde der Winter hereinbrechen. Der Lauf der Dinge schritt unaufhaltsam voran, bald würde nichts mehr an Albert erinnern. Nicht einmal ihn, dem man ein außerordentliches Gedächtnis nachsagte.
Aber er sollte sich irren.
|81| An diesem Tag strömten die Studenten der Medizin zum Anatomieturm, in dem die Vorlesungen Professor Loders stattfanden. Es hatte sich herumgesprochen, dass über ein ganz besonderes Thema doziert werden sollte, das mit Vorfreude und viel anzüglichem Gelächter erwartet wurde.
Vor dem achteckigen Hörsaal mit Pyramidendach, der auf einem alten Turmstumpf aus Muschelkalk gebaut war, bildete sich eine kleine Traube ungeduldiger Studenten, die sich durch das Nadelöhr des Vorraums drängten. Von dort führte eine schmale Treppe in ein Auditorium, in dem die Stühle wie in einem Theater um ein Podium gruppiert waren. Professor Loder stand ans Pult gelehnt, die Hände in seiner weiten Rocktasche versenkt. Es hieß, er bewahre dort seine Briefe auf, die noch zu beantworten seien, oft monatelang. Und wenn man genau hinsah, konnte man das Papier herauslugen sehen. Zu seinen Füßen aber war eine kleine Kiste, die heute im Zentrum des Interesses stehen würde.
Es waren mehr Studenten anwesend als sonst bei den Vorlesungen, und Hufeland schien es sogar, als wären auch Studenten der anderen Fakultäten zugegen. Der Raum war erfüllt vom Gemurmel und Gesumme der Anwesenden. Selbst Vogt war da, in ein Gespräch vertieft.
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