Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
Hand vor Nase und Mund. Vorbei, umsonst.
»Warte, etwas stimmt nicht. Der Körper …« Vogt hob die Lampe, die nun mit fahl flackerndem Licht das Innere des Sarges ausleuchtete.
Ein brausendes Geräusch schlich sich in Hufelands Ohren, durchfuhr seinen ganzen Körper. Ihm wurde heiß.
Im Inneren lag ein Mann, regungslos. Schmächtiger Körper, schmale Schultern. Den Mund weit aufgerissen, wie zu einem Schrei, der jetzt aus Hufelands Mund entwich. Der Mann, den sie vor sich sahen, war zweifellos tot. Doch es war nicht Albert Steinhäuser.
Der Boden unter Hufelands Füßen schien plötzlich weich, als stünde er in einem Morast, der ihn zu verschlingen drohte. Ungläubig betrachtete er den schmächtigen Körper, die durchstochene Kleidung, das getrocknete Blut. Eine Assel schlüpfte aus dem Nasenloch und kroch in die dunkle Höhle des Mundes. Kleine dunkle Erdbrocken rieselten auf den starren Körper, als Hufeland einen hastigen Schritt zurücktrat.
Hätte es sich um irgendeinen Mann gehandelt, so hätte man an einen Irrtum des Totengräbers glauben können, an eine Verwechslung der Grabkreuze. Doch der junge Mann, der statt Albert Steinhäuser im Grabe lag, war Ludwig Gerstel. Und erst jetzt fiel Hufeland auf, dass er ihn seit jenem verhängnisvollen Tag nicht mehr gesehen hatte.
»Was machen wir jetzt?« Hufelands Atem ging stoßweise und schickte kleine Wölkchen in die Nachtluft. Ihm war kalt.
»Zuschütten!«, rief Vogt mit gepresster Stimme, warf den Deckel zu und fing an, Erde auf den Sarg zu häufen.
Hufeland sah ihm zu, starr, unfähig zu helfen. Warum Ludwig Gerstel? Und wo war Albert? Wo um Himmels willen war Albert? Er zitterte. »Wir müssen Meldung machen.«
»Ja? An wen denn? An den Totengräber, den Priester, an den Dekan oder gar an die Polizei? Ohne mich!« Vogt sah auf, ohne seine |89| Arbeit zu unterbrechen. »Wer immer davon erfährt, möchte wissen, warum wir unbefugt ein Grab geöffnet haben. Darauf steht der Karzer, Exkommunizierung, der Ausschluss aus der Universität!« Er stand auf, trat den Boden ums Grab glatt und klopfte sich dann die Erde von den Knien. »Nein, Christoph. Es würde ohnehin nichts ändern. Ganz im Gegenteil. Wer immer dafür gesorgt hat, dass hier Ludwig begraben liegt statt Albert, der hat Verbündete.«
Hufeland nickte. Sein Geist schien betäubt, ebenso sein Körper.
Vogt seufzte. »Ich brauche jetzt was zu trinken.« Entschlossen ging er in Richtung Kirche.
Hufeland lief ihm hinterher, die laubbedeckten Wege entlang. Er wünschte, sie würden diesen unseligen Ort augenblicklich verlassen. »Was hast du vor?«
»Die Kirche war offen, als ich vorhin nach einer Lampe suchte. Und ich weiß, wo der Küster den Messwein versteckt.«
»Das kannst du nicht machen!«
Vogt blieb stehen und drehte sich um. Seine hellblauen Augen blitzten im Licht der Laterne. »Du gottverdammter Moralist. Du hast soeben eine christliche Stätte entweiht, den Frieden der Toten gestört, und jetzt lamentierst du wegen einer Flasche Messwein?« Damit wandte er sich ab und lief voraus.
Während Vogt in der Kirche verschwand, setzte sich Hufeland auf eine Bank seitlich des Portals und starrte auf die Buchsbaumreihen vor ihm. Das Bild des grünlich gefärbten, eingesunkenen Gesichts wollte ihm nicht aus dem Sinn, der zum Schrei geöffnete Mund.
Hufeland schluckte. Seine Kehle war trocken.
Vielleicht wäre es sogar tröstlich gewesen, wenn sie Albert Steinhäuser vorgefunden hätten. Friedlich schlafend, tot. Vielleicht hätte er dann endlich abschließen können mit dieser Geschichte und sich seinen Studien widmen. Endlich die Gedanken wieder auf das lenken, was ihm wichtig war, wichtig sein musste: die Medizin. Er wünschte sich Beständigkeit in sein Leben zurück. So wie vor Beginn des Studiums.
Hufelands Gedanken trieben zurück in die Kindheit. Er sah das |90| Gesicht seines Vaters, des Leibarztes zu Weimar, der ihn ernst und sorgenvoll betrachtete. Das verweinte Gesicht der Mutter. Er erinnerte sich an die sommerliche Hitze, die bis in das Innerste des Hauses drang, an die Schweißperlen, die ihm in den Nacken rannen, als der beständige Unfug seinen traurigen Höhepunkt genommen hatte. Neben dem Vater der befreundete Hofmeister, den Hufeland heimlich über Stunden im stinkenden Abort eingesperrt hatte.
Hufeland hatte seine Unschuld beteuert. Doch weil dies nicht der erste Vorfall dieser Art gewesen war, war man rasch übereingekommen, dass eine härtere Erziehung nottat. So
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