Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
ich das Zimmer betreten habe, war es schon geschehen!« Vogt hob die Schultern.
Hufeland fiel auf, dass er seinen Degen trug.
»Was willst du hier?«
»Du hast mich doch gerufen.«
»Du bist davongerannt.«
Vogt seufzte, stellte den am Boden liegenden Stuhl wieder auf. »Du siehst ja, was hier los ist. Besser, man sieht mich nicht mit dir.«
»Mit mir?« Hufeland konnte ihm nicht folgen. »Was hat das alles mit mir zu tun?«
»Vielleicht hätte ich dir nichts erzählen dürfen.«
»Was hast du mir denn schon erzählt! Außerdem habe ich geschworen zu schweigen.«
»Ich weiß.« Vogt seufzte erneut. »Aber nicht jeder nimmt einen Eid so ernst, wie du es tust. Und du hast etwas gesehen, was du nicht hättest sehen dürfen.«
»Ludwig Gerstel?«
Vogt nickte.
»Aber außer dir weiß doch niemand davon.«
»Nein? Und deine Frage bei Professor Loder, ob man Albert ohne eingehende Untersuchung begraben habe? Die Vorlesung war noch nicht einmal beendet, da sind wir schon hinausgestürmt. Man braucht sich nur zusammenzureimen, was offensichtlich ist, um zu wissen, wohin wir liefen. Das ist auch gewissen Leuten nicht entgangen.«
»Aber was ist mit dir? Du warst doch auch dabei.«
»Ich bin in der Verbindung. Und du tätest gut daran, ihr ebenfalls beizutreten.«
|135| »Dann kennst du die Leute, die das hier getan haben?« Hufeland zeigte auf die Unordnung, auf die zerschmetterten Überreste des Elektrisierapparats.
Vogt schwieg. Eine Weile taxierten sie sich gegenseitig. Als Vogt schließlich sprach, klang seine Stimme ganz weich. »Komm, Christoph, bitte. Du wirst es nicht bereuen.«
Langsam, ganz langsam hob Hufeland den Arm, schwenkte ihn mit ausgestrecktem Zeigefinger in Richtung Tür.
»Raus! Sofort. Ich will, dass du auf der Stelle verschwindest!«
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HETTSTEDT
30. OKTOBER 1780
Der Brief erreichte Hahnemann, als er dabei war, den Boden zu wischen. Er war derart vertieft darin, auf der Erde kniend die unterschiedlichsten Arten von Staub zu kategorisieren, Staubflocken, Staubkugeln, feinen Staub und klebenden Staub, dass er den Briefboten erst bemerkte, als sich dessen Schuhe in sein Blickfeld schoben.
Mit hochrotem Kopf stand er auf, nahm den Brief entgegen und schimpfte etwas von der Unzuverlässigkeit der Hausangestellten. Als er jedoch das Wappen von Hermannstadt sah und als Absender den Siebenbürgener Gouverneur Baron von Brukenthal erkannte, hob sich seine Laune augenblicklich, und er verschwand im Arbeitszimmer, um den Brief zu öffnen.
Verehrter Freund,
hatte der Baron mit großzügig geschwungenen Buchstaben geschrieben
, wie ich Ihrem Brief entnehme, haben Sie die Doktorwürde in Erlangen erhalten und sich nun als Arzt im kleinen Örtchen Hettstedt niedergelassen. Dabei frage ich mich, ob dieser Platz für einen Mann Ihrer Befähigung der richtige ist. Ich muss sagen, dass mich Ihr Können während der beinahe zwei Jahre, die Sie in meinen Diensten standen, sehr beeindruckt hat, und wundere mich doch sehr über Ihre Entscheidung. Wenn es denn Ihre freie Wahl gewesen ist. Sollten Sie daher meine Hilfe brauchen, um an einem bedeutenderen Ort unterzukommen, so lassen Sie es mich wissen. Ich habe beste Verbindungen zum Stadtphysikus von Dresden, dort wären Sie sicher besser aufgehoben.
Hahnemann ließ den Brief sinken und hob eine Braue.
Während er den Blick über das karge Arbeitszimmer schweifen |137| ließ, über die am Boden gestapelten Bücher, die inmitten dichter Staubflocken lagen – es war ein Fehler gewesen, Agnes zu kündigen –, dachte er an seine Jugend. An den Rektor der Meißener Fürstenschule, der seine Fähigkeiten schon frühzeitig erkannte und förderte. Ohne dessen Wohlwollen wäre er, unbedeutender Sohn eines Porzellanmalers, niemals Arzt geworden. Beinahe jede Nacht hatte er unter der Decke, im Licht eines selbstgebauten Tonlämpchens, seine Lektüre fortgesetzt. Nicht um dem Gönner zu beweisen, dass das in ihn gesetzte Vertrauen gerechtfertigt war, sondern weil er es nicht ertrug, den Tag vergehen zu lassen, ohne etwas Neues gelernt zu haben.
Nun also bot ihm auch der Baron seine Unterstützung an. Von Brukenthal hatte ihn in Hermannstadt mit der Lehre der Freimaurer bekannt gemacht, seinen Beitritt in die dortige Loge gefördert und ihm damit eine Welt unsichtbarer Kanäle eröffnet, die sich durch das ganze Land zogen. Sollte er dieses Angebot annehmen? Er wäre stets protegiert, doch nie wirklich frei.
Hahnemanns Blick wanderte zum Fenster.
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