Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
Der Abend warf seine Schatten täglich früher, durch die kahler werdenden Bäume drangen Strahlen der untergehenden Sonne und tanzten auf dem Boden. Ein paar Minuten hielt Hahnemann das Papier zwischen den Händen, mit sich ringend, bis er seine Entscheidung aufschob und sich wieder dem Brief des Barons zuwandte.
Ich hoffe, Sie mögen es mir verzeihen, dass ich mit einer Antwort so lange auf mich warten ließ. Einige Bauern im benachbarten Medwisch waren der festen Überzeugung, einen leibhaftigen Vampir unter sich zu haben, der auf seiner nächtlichen Jagd mehrere von ihnen mit ins Grab riss. Eines der Opfer, das dem Tode noch entrissen werden konnte, schwor, dass es sein erst vor kurzem verstorbener Nachbar gewesen sei, der versucht habe, ihm den Lebenssaft aus dem Hals zu saugen.
Ach, lieber Samuel, wie gerne hätte ich Sie mit Ihrem nüchternen Verstand in diesen Tagen an meiner Seite gewusst. Sie hätten uns gewiss viel Aufregung erspart. Der Arzt hingegen, ein ausgesprochener
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Hohlkopf, hatte die Öffnung des Grabes angeordnet, um den Toten zu pfählen, statt die ursächliche Seuche zu bekämpfen und somit weiteren Schaden abzuwenden. Dabei wird er sich an dem Übel selbst angesteckt haben, denn er verstarb nur wenig später. Sie können sich den Aufruhr sicher bildlich vorstellen, der daraufhin ausbrach!
Sie, lieber Samuel, hätten sich gewiss auf die Suche nach dem wahren Grund gemacht und mit größerer Hygiene die Ausbreitung der Seuche zu verhindern gewusst, statt den Aberglauben zu schüren, für den das einfache Volk allzu empfänglich ist. Diese Angelegenheit hat unsere Loge viel Zeit und Kraft gekostet, doch inzwischen scheint sich die Unruhe zu legen.
Auch war ich sehr mit der Planung eines prächtigen Neubaus beschäftigt. Die Bibliothek soll in diesem Palais einen Teil des Mittelstocks einnehmen. Geplant sind ein großer Saal mit deckenhohen Regalen, dazu zwei Kabinette für die Sammlungen und einige Zimmer für die Gemälde und Kupferstiche. Ich erwähne nicht ohne Stolz, dass die Bibliothek inzwischen an die
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Bände umfasst und größere Räumlichkeiten notwendig macht. Aber wozu schweife ich ab, Ihnen oblag ja die Aufsicht über diese Kostbarkeiten. Es kommen jedoch immer neue hinzu, es wird neben den antiken Münzen nun auch eine Mineraliensammlung geben, die ich mit Hilfe bedeutender Mineralogen zusammenstellen lasse.
Um nun Ihre Frage zu beantworten: Ja, ich habe das Büchlein gefunden, welches Sie erwähnten. In der Tat, die Erklärung, es existiere eine Anleitung zur Bereitung einer himmlischen Arznei, des von uns allen so innig ersehnten Lebenselixiers, klingt verheißungsvoll. Doch muss ich Sie darauf aufmerksam machen, dass es sich bei dem Verfasser dieser Abhandlung um einen inzwischen verstorbenen Mediziner aus Hermannstatt handelt, der seine Studienzeit in Jena verbrachte. Das mag bedeutsam sein, denn diese Stadt hat ein recht zweifelhaftes Erbe.
Da ich annehme, dass Sie, damals im zarten Kindesalter, noch nicht mit dem größten Betrugsfall der freimaurerischen Geschichte in Berührung gekommen sind, möchte ich Ihnen die Hintergründe näher erläutern. Danach überlasse ich Ihnen die Entscheidung, ob die im
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Schriftstück erwähnte Rezeptur nicht der Phantasie eines Hasardeurs entstammt.
Zu jener Zeit, im Sommer
1763
, trat ein Mann auf, der sich als geheimer Ordensvisitator ausgab und die angesehene Jenaer Rosenloge mit seinem charismatischen Auftreten für sich einnahm. Selbst die gelehrtesten Professoren und höchsten Bürger wusste er mit seinen weitreichenden Kenntnissen der Alchemie, Metaphysik und Naturkunde zu verblüffen. Der Name sollte Ihnen ein Begriff sein, man flüstert ihn noch immer hinter vorgehaltener Hand: Friedrich von Johnssen.
Johnssen. Ja, Hahnemann hatte vage davon gehört. Aber immer, wenn jemand auf diesen Mann zu sprechen kam, versteinerten sich die Gesichter, und die Älteren wurden schweigsam.
Er hielt den Brief näher vors Gesicht. Die Abendsonne war hinter den Hügeln verschwunden, die Dämmerung machte das Lesen unmöglich. Ungeduldig entzündete er die Öllampe.
Im Grunde war es nicht mehr als das altbekannte Spiel um Macht und Geld. Johnssen lebte einen verschwenderischen Lebensstil, schien aus unversiegbaren Quellen zu schöpfen. Er machte seine Gefolgsleute glauben, über grenzenlose Reichtümer zu verfügen, an denen sie Anteil haben würden. So mochte ihm auch niemand widersprechen, als er begann, die
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