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Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Koschyk
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Eine Gruppe Studenten schlenderte vorbei, sie zogen den Hut und drehten sich pfeifend nach ihr um. Der Weg führte durch verwinkelte Gassen bis an die Mauern der Stadt, zu einem Haus mit abblätternder Fassade und verwitterten Fensterrahmen.
    Sie sprachen kein Wort, bis sie in der dunklen Stube standen, in der der Geruch verloschenen Ofenfeuers hing.
    »Setzen Sie sich. Ich hole Ihnen etwas Trockenes zum Anziehen.«
    Helene nickte und ließ sich auf einem der Stühle nieder. Sie strich sich eine nasse Locke aus der Stirn und starrte auf ihre Hände, die von der Kälte gerötet waren.
    Der junge Mann, der sich ihr als Hufeland vorgestellt hatte, war sichtlich erschüttert gewesen, als sie ihm ihren Namen nannte. Es war ein Ausdruck in seinen Augen, der ihr Angst machte. Was war mit Albert geschehen? In Gedanken versuchte sie, alle Möglichkeiten zu ermessen, doch ihr Geist war wie betäubt. Sie war zu spät gekommen. So, wie es Madame Irmeline prophezeit hatte. Wie unbarmherzig konnte die Wahrheit doch sein, die es vermochte, dass innerhalb einer Stunde alles in sich zusammenfiel, woran das ganze Leben zu hängen schien.
    Helene horchte auf ihr Herz, das regelmäßig klopfte, als wäre nichts geschehen. Sie rieb die Hände, blies warmen Atem hinein, flüsterte die Worte »zu spät, zu spät« und schloss die Augen.
    Weber kam zurück und legte ein Kleid in dunklem Blau auf den Tisch. »Das gehört meiner Frau. Sie können es gern anziehen.«
    »Wo ist mein Bruder?«, fragte sie leise.
    Er sah sie mitfühlend an, setzte sich ihr gegenüber. »Albert wurde vor wenigen Wochen bei einem Duell erstochen. Es tut mir sehr leid.«
    »Erstochen?« Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie schluckte schwer und holte tief Luft. »Wie ist das passiert?«
    »Es war wohl ein Unfall. Manche Studenten ereifern sich zu sehr |181| in der Austragung ihrer Fehden. Aber das sind nur Mutmaßungen, ich war nicht dabei, als es geschah.«
    »Wann genau war das?«
    »Am 15. September.«
    Sie nickte, als gäbe ihr die Nennung des Tages endlich Gewissheit. Am 15. September war ihr Leben noch ein anderes gewesen. Sie hatte, wie beinahe jeden Tag, wohl in der väterlichen Apotheke geholfen, ihrem Vater bei der Zubereitung seiner Arzneimittel zugesehen. Damals hatte Meschkat noch nicht um ihre Hand angehalten gehabt. Sie war glücklich gewesen, hatte die Sonne und den Wind auf ihrem Gesicht gespürt. An dem Tag, an dem ihr geliebter Bruder sein Leben aushauchte, hatte sie sich vielleicht mit den kleinen Brüdern gestritten und von Mechthild einen Klaps erhalten.
    Tränen rannen ihre Wangen hinab. »Ich habe geglaubt, man würde den Tod einer nahestehenden Seele spüren«, sagte Helene mühsam gefasst. »Aber ich muss wohl einsehen, dass an jenem Tag nichts dergleichen geschehen ist.«
    »Im Korinther steht:
Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden
«, gab Weber zur Antwort. »Albert ist bei Gott und führt ein Leben bei ihm.«
    Bei diesen Worten konnte Helene nicht länger an sich halten. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf, hielt die Hände vors Gesicht und schluchzte heftig. Weber hockte sich neben sie, strich ihr über den bebenden Rücken, bis ihr Weinen langsam verebbte.
    »Ich möchte sein Grab sehen«, sagte sie und fuhr sich mit dem Ärmel ihres Kleids über das tränennasse Gesicht.
    Weber nickte, drückte ihre Hand und wartete dann im Nebenraum, bis sie sich des klammen Kleids entledigt und das trockene über ihren Reifrock gezogen hatte. Es war viel zu groß, hing an ihr wie ein unförmiger Sack mit Volants und Spitzenborte, doch es hielt sie warm und trocken. Weber hatte ihr auch einen knielangen Kapuzenmantel aus gefilzter Wolle gegeben, den sie darüberzog.
    »Ohne Sie wäre ich verloren«, bemerkte sie artig, was ihm ein warmherziges Lächeln entrang.
    |182| Als sie das Haus verließen, hielt sie die Reisetasche noch immer fest an sich gepresst. Weber bot an, die Tasche im Haus zu lassen oder sie zumindest zu tragen, aber sie schüttelte nur den Kopf.
    Der Regen hatte nachgelassen, doch er schien nur innezuhalten. Schwarze Wolken hingen schwer über dem Friedhof, als warteten die Wasser des Himmels darauf, jeden Augenblick einer Sintflut gleich herabzustürzen und die Stadt von ihren Sünden zu reinigen. Der Wind pfiff um die Gräber, rüttelte an den kleinen Laternen, die hier und da noch brannten und flackernden Lichtschein in die Pfützen warfen.
    Alberts Grab war

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